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6. Heimath-Wesen.
Die unbestritten in P. zum Unterstützungswohnsitz berechtigte Kellnerin Rosalie K. ist in Dresden an
Syphilis erkrankt, vom 31. Januar bis zum 13. März 1875 im dortigen städtischen Krankenhause ärztlich
behandelt und verpflegt worden. Der Ortsarmenverband Dresden berechnete die Kur= und Verpflegungs-
kosten auf Grund eines mit Genehmigung der vorgesetzten Regierungsbehörde festgestellten Regulativs zu
1 Mark 25 Pfennig täglich und verlangte demgemäß die Erstattung von 52 Mark 50 Pfennig von dem
Ortsarmenverbande Posen, welcher die Zahlung mit der Behauptung ablehnte, daß die Aufnahme der K.
in das Krankenhaus lediglich aus sanitätspolizeilichen Gründen erfolgt sei. Eventuell bemängelte der Armen-
verband Posen die Höhe des geforderten Verpflegungssatzes, indem er dessen Reduktion auf 75 Pfennig
täglich beantragte.
Die Posen'sche Deputation für das Heimath-Wesen hat den verklagten Ortsarmenverband nach dem
Klageantrage zur Zahlung der ganzen geforderten Summe verurtheilt.
Auf die Berufung des Verklagten änderte das Bundesamt durch Erkenntniß vom 22. April 1876
die erstrichterliche Entscheidung dahin ab, daß der Verklagte nur schuldig, dem Kläger an Kur= und Ver-
pflegungskosten 1 Mark täglich, im Ganzen 42 Mark, zu zahlen und Kläger mit seiner Mehrforderung
abzuweisen, und zwar aus folgenden
Gründen:
Daß die unverehelichte K. sich zur Zeit ihrer Aufnahme in das städtische Krankenhaus
zu Dresden in einem Zustande befand, in welchem das Einschreiten der öffentlichen Armenpflege,
sofern nicht von anderer Seite für sie gesorgt wurde, angezeigt erschien, kann nach Inhalt des
ärztlichen Attestes vom 31. Januar 1875, sowie in Berücksichtigung, daß sie mittellos war,
nicht zweifelhaft sein. Denn nach dem gedachten ärztlichen Atteste war ihr Krankheitszustand ein
solcher, daß ohne Gefahr für ihre Gesundheit ihre Aufnahme weder verweigert, noch verzögert
werden durfte. Unter den nunmehr festgestellten Umständen ist aber auch nicht anzunehmen,
daß die K. lediglich in Folge polizeilicher Anordnung aus sanitätspolizeilichen Gründen in das
städtische Krankenhaus zu Dresden ausgenommen worden sei. Allerdings ist sie vor ihrer Auf-
nahme wegen lüderlichen Umhertreibens und dringenden Verdachts, der Prostitution ergeben zu
sein, aufgegriffen, bei ihrer polizeiärztlichen Untersuchung syphilitisch krank befunden und dem-
nächst dem städtischen Krankenhause zugeführt worden. Diese Zuführung war indessen keine
zwangsweise, vielmehr wurde, nach der amtlichen Erklärung der Königlichen Polizeidirektion, die
K. vorher aus der Polizeihaft entlassen und dem Stadt-Krankenhause zur Aufnahme empfohlen,
in welchem sie denn auch nach der betreffenden Aufnahmeverhandlung auf ihren eigenen Antrag
Aufnahme fand. Es würde, nach der weiteren Erklärung der Polizeidirektion, im Falle der
Weigerung der Kranken, in der gedachten Anstalt Heilung zu suchen, eine zwangsweise Unter-
bringung und Heilung derselben in der Anstalt unzulässig gewesen sein, man sich vielmehr darauf
habe beschränken müssen, entweder die K. von Dresden weg= und ihrer Heimathsbehörde zuzu-
weisen, oder ihr die Privatheilung zu gestatten. Allerdings wird in letzterer Hinsicht noch der
Vorbehalt gemacht, daß solches unter den vorher näher zu prüfenden Verhältnissen unbedenklich
geschehen könnte. Allein ein solcher Vorbehalt einer eventuell möglicherweise nöthig werdenden
polizeilichen Zwangsmaßregel kann an der rechtlichen Natur des vorliegenden Aufnahmeaktes
nichts ändern, welcher als ein aus sanitätspolizeilichen Gründen erzwungener sich noch nicht
darstellt, mögen auch solche Gründe die Polizeibehörde bestimmt haben, ihrerseits auf die Auf-