Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Siebenter Jahrgang. 1879. (7)

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wahrloster und verbrecherischer Kinder in eine Erziehungsanstalt fernere Geltung haben, und daß deren An- 
wendung von einer vorgängigen Feststellung des Strafrichters, es sei eine strafbare Handlung durch das 
Kind begangen, nicht abhängig zu machen ist. Das neue Alinea sollte jeden Zweifel darüber ausschließen, 
daß bei Handlungen jugendlicher Uebelthäter unter 12 Jahren eine Repression durch eigentliche Strafmittel 
nicht einzutreten habe, daß die gegen solche Uebelthäter zu ergreifenden Maßregeln nicht dem Strafrichter, 
sondern den Verwaltungsbehörden obliegen sollten. Im Reichstag wurde es nun für bedenklich erachtet, 
in irgend einem Falle der Polizei allein die Verfügung über die im Interesse der öffentlichen Ordnung zu 
ergreifenden Maßregeln zu überlassen; es wurde daher beschlossen, daß vor Ausführung einer desfallsigen 
polizeilichen Anordnung die Vormundschaftsbehörde zur Wahrung der privaten Interessen des Kindes gehört 
werden, namentlich feststellen solle, daß die Handlung wirklich begangen sei. 
Vergleiche Drucksachen des Bundesraths 1875 Nr. 73 S. 2 und 29; Nr. 98 S. 10. Steno- 
graphische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 1875/76, Band 3 S. 156, 165, 
412; Band 1 S. 631 ff. . 
Aus dem §. 55 des Strafgesetzbuchs kann also zunächst nur gefolgert werden, daß die Unterbrin- 
gung jugendlicher Uebelthäter von noch nicht 12 Jahren in eine Erziehungs= oder Besserungsanstalt nicht 
zur Kompetenz des Strafrichters gehört, sondern in die Sphäre der Administrativbehörden fällt, und daß, 
wenn die Polizeibehörde einschreitet, die Vormundschaftsbehörden eine kontrolirende Thätigkeit zu üben haben. 
Darüber, welchen Administrativbehörden die Initiative zustehe, hat das Strafgesetzbuch nichts bestimmt, 
vielmehr ist diese Frage nach allgemeinen Grundsätzen zu entscheiden. Nun ist es Aufgabe der Armenpolizei, 
der Verarmung, Aufgabe der Sicherheitspolizei, der Verübung strafbarer Handlungen vorzubeugen. Die 
Besserung und Erziehung, welche in Anstalten, wie diejenige in Gotha, angestrebt wird, hat aber wesentlich 
den Zweck, Knaben, welche sich auf dem Wege des Lasters befinden und der öffentlichen Sicherheit ge- 
fährlich zu werden drohen, zu ordentlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen und von der 
Begehung strafbarer Handlungen zurückzuhalten; soweit dabei auf Unterweisung der Knaben in gewinn- 
bringender Beschäftigung Bedacht genommen wird, ist dies Mittel zum Zweck. Die Unterbringung in eine 
Besserungsanstalt ist hiernach — wie auch das Bundesamt schon früher angenommen hat, vergl. Entsch. III. 
S. 40 — eine sicherheitspolizeiliche Maßregel, für deren Kosten die veranlassende Polizeibehörde, nicht der 
betreffende Armenverband, aufzukommen hat. 
Die Bestimmung im §. 2 des anhaltischen Ausführungsgesetzes vom 29. Juni 1871 (Nocholl, 
Armenpflegerecht, Anh. S. 139) kann an dieser Auffassung nichts ändern. Abgesehen davon, daß nach §s. 30 
des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 die Höhe der zu erstattenden Unterstützungskosten sich nach den am 
Orte der stattgehabten Unterstützung geltenden Grundsätzen richtet und daß daher im vorliegenden Falle 
eventuell das gothaische — nicht das anhaltische — Gesetz entscheidend sein würde, so hat der §s. 8 des 
Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 den Landesgesetzen nur überlassen, über Art und Maß der im Falle der 
Hülfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen Unterstützung, sowie über die Beschaffung der erforderlichen 
Mittel zu bestimmen. Wenn daher der allegirte Paragraph des anhaltischen Gesetzes den betreffenden Armen- 
verbänden die Verpflichtung auferlegt, für die Erziehung verwahrloster Kinder insoweit zu sorgen, als ander- 
weitig Verpflichtete nicht vorhanden oder dazu außer Stande sind, so kann diese Bestimmung bezüglich der 
durch das Reichsgesetz geregelten Beziehungen zwischen Armenverbänden verschiedener Bundesstaaten dann 
keine Anwendung finden, wenn eine Hülfsbedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne nicht vorliegt. Dies ist 
nun vorliegend der Fall. Der 2c. T. ist im Stande, durch seiner Hände Arbeit den Unterhalt für sich und 
seine Familie zu erwerben, er wünschte die Unterbringung des Knaben in die Gothaer Anstalt nicht, sondern 
hatte sogar — wie die in dieser Instanz eingeforderten Akten des Landrathamts zu Gotha ergeben — die 
Absicht, durch Wegzug von Wiegleben beziehungsweise auswärtige Unterbringung des Knaben diese Maßregel 
zu hintertreiben. Dieselbe wurde seitens der landräthlichen, d. i. der Polizeibehörde auch erst ausgeführt, 
als der Wegzug unterblieb, beziehungsweise als die bezüglich der Unterbringung des Knaben in Brüheim ge- 
stellten Bedingungen unerfüllt blieben; dem Armenverbande ist dabei eine selbständige Prüfung und Ent- 
scheidung nicht eingeräumt gewesen. Hiernach hat das Bundesamt einen Armenpflegefall als vorliegend an- 
zunehmen nicht vermocht und deshalb unter Abänderung des ersten Erkenntnisses den Kläger abweisen müssen. 
 
	        
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