Arbeiterversicherung und Sozialdemokralle. 35
zuschließen, so sei damit eine moralische Hebung des
Arbeiterstandes gegeben, die viel mehr wert sei als die
materielle Fürsorge durch eine Staatsgesetzgebung. Die
konservative Partei lehnte von vornherein diese liberale
Doktrin ab und kam der Sozialreform mit Sympathie
entgegen; für das Unfallversicherungsgesetz wiederum wurde
der dem Zentrum sympathische Genossenschaftsgedanke zu
Hilfe gerufen, so daß Bismarck abwechselnd bald mit Hilfe
des Zentrums, bald der Nationalliberalen, die ersten Gesetze
durchbrachte. Auf des Messers Schneide aber stand die
Entscheidung über das größte und wichtigste dieser Gesetze,
die Alters- und Invaliditätsversicherung. Gerade die beiden
demokratischen Parteien, die Sozialdemokraten und die
Freisinnigen, opponierten mit der größten Leidenschaft und
wußten auch in den Massen eine gewisse Erregung dagegen
hervorzurufen. Das Gesetz gibt bekanntlich jedem nicht
mehr arbeitsfähigen, versicherten Arbeiter, in welchem Alter
er auch stehe, eine Invalidenrente, jedem Siebzigjährigen
aber auf jeden Fall eine Altersrente, mag er noch seine
Arbeitsfähigkeit haben oder nicht. Gleich im ersten Jahr
wurden 133000 Altersrenten bewilligt und bis zum
Jahr 1909 sind 1748137 Invalidenrenten verliehen
worden. In allen Volksversammlungen wurde aber von
den Arbeitern das Gesetz verworfen, immer wieder mit der
Argumentation „70 Jahre alt werden wir ja gar nicht!“
und wenn man sagte, daß ja die Hauptsache die Invaliden-
rente sei, so hieß es „ja, wer weiß, wann man die Invalidität
bei uns anerkennen wird“. Gegen dieses von der Agitation
geflissentlich genährte Mißtrauen war schlechterdings nicht
aufzukommen, und da nun auch sehr viele Arbeitgeber schon
anfingen, sich auszurechnen, wie große Lasten das Gesetz
ihnen einmal auferlegen würde, so wäre bei allgemeiner