Reichstag und Minister. 67
er in ein paar Jahren Minister oder zum wenigsten Unter-
staatssekretär sein wird. Er wird es nur auf einige Zeit,
aber er wird es doch, und das befriedigt nicht bloß den
Ehrgeiz, sondern gibt auch im Dienst wie außer Dienst
vielfache Gelegenheit zu Erwerb. Ein Mitglied der franzö-
sischen Deputiertenkammer zu sein, ist immer etwas, das
unendliche Perspektiven eröffnet. Mitglied des deutschen
Reichstages zu sein, ist ehrenvoll, bringt aber keinen Gewinn.
Es ist nicht die Vorstufe für einen Minister, überhaupt
nicht für eine hohe Stellung. Es kommt ja vor, daß ein
Abgeordneter „etwas wird“; so war Miquel Abgeordneter,
bevor er Minister wurde. Aber er hat dann seine Ver-
gangenheit als Abgeordneter so viel wie möglich verleugnet,
und ein so bedeutender Mann wie Bennigsen hat es bei
uns niemals zum Minister bringen können. Umgekehrt
aber die abgehenden Minister, die in den parlamentarischen
Staaten die sachkundigsten und gefährlichsten Kritiker ihrer
Nachfolger sind, lassen sich bei uns fast niemals in den
Reichstag wählen. Hier scheint ja nun die Kluft etwa
zwischen Frankreich und Deutschland unendlich. Hier eine
berufsmäßige Regierung mit einer Volksvertretung als eine
Art Kontrollstation neben sich, dort die gewählte Volks-
regierung. Aber wie ist es mit der „Volksregierung“? Wir
haben ja gesehen, daß der Begriff „Volksvertretung“ eine
optische Täuschung ist. Das „Volk“ hat ja in Wirklichkeit
die Deputierten gar nicht gewählt. Läßt sich der Volkswille
aber auch auf eine andere Weise bestimmen, als durch Ab-
stimmen und Wählen? Als man in der großen französischen
Revolution die neue Verfassung ausarbeitete, die Freiheit
und Gleichheit begründen sollte, war man dieser An-
sicht. Es heißt da (Titel 7 Abschnitt 2): „Das Volk,
welches die Quelle aller Gewalt ist, kann diese nur durch