XXVIII Einleitung.
7. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält auch keine allgemeine
Regeln für die Auslegung der Gesetze und die Ergänzung
von Lücken. Der in erster Lesung vorgeschlagene Hinweis
auf die Analogie ist mit Recht gestrichen, weil er teils
selbstverständlich (Z. R. 67 137), teils, insbesondere für die Fälle
eines durchschlagenden argumentum a contrario, unrichtig ist
und jedenfalls die Frage nicht erschöpfend erledigt.
Rechtswissenschaft und Rechtspflege haben also auf diesem
Gebiete die für eine gedeihliche Rechtsentwickelung unentbehrliche
volle Freiheit, welche es ihnen gestattet, namentlich bei der Aus-
füllung der in jedem Gesetze vorhandenen, keineswegs bloß schein-
baren Lücken und der Anwendung des Gesetzes auf die neuen
ganz unvorhergesehenen Fälle, welche das Leben täglich zeitigt,
dem Rechtsbewußtsein der Gegenwart, den Gesichtspunkten der
Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Zweckmäßigkeit volle Entfaltung
zu verschaffen.
Ganz unrichtig und höchst verderblich ist es, der Aus-
legung die Aufgabe zuzuweisen, die Gedanken des Gesetzgebers
aufzudecken und zu erforschen, was der Gesetzgeber ge-
wollt oder nicht gewollt habe. Ganz abgesehen da-
von, daß es bei unseren Reichsgesetzen einen persönlichen
Gesetzgeber mit bestimmten Gedanken und Willensmeinungen
überhaupt nicht gibt und deshalb jene Phrase nur als ein
billiges Mittel erscheint, um den Mangel von Gründen für eine
beliebte Auslegung zu verdecken, darf nur das losgelöst
von jeder menschlichen Persönlichkeit in die Erscheinung
tretende Wort des Gesetzes als bindend betrachtet werden,
ohne daß aber dadurch dem Buchstaben das Recht gegeben
wäre, den Geist zu töten und seine Weiterentwickelung zu ver-
hindern.2:) Schon heute sind durch die Theorie zahlreiche Rechts-
—— —. —
1) Der Grundsatz des § 157 erheischt aber auch hier Beachtung.
Das Zustandekommen und Inkrafttreten der Reichsgesetze regeln Art. 2
und 5 der Reichsverfassung. Die Prüfung der Rechtsgültigkeit ist Sache
des Richters. — Authentische Interpretationen sind nur die durch
ein Gesetz gegebenen. Sie nötigen dem älteren Gesetz den später hin-
eingetragenen Sinn so zu geben, als ob es ihn von vornherein ge-
habt hätte, wobei es gleichgültig ist, ob dieses zutrifft oder nicht.
2) Gradenwitz, Wort-Verzeichnis zum Be#. 1902, ein wichtiges
Hilfsmittel für die Ermittelung des Sprachgebrauchs.