z 6. Finanzprivilegien der Zweiten Kammer
im allgemeinen. ç
I. Die hauptsächlichsten und allgemein vorkom-
menden Abweichungen von dem Paritätsprinzip
begegnen auf dem Gebiete der Finanzgesetzge-
bung. Die II. K hat hier Vorrechte. Der Rechts-
zustand ist in den Staaten sehr verschieden:
1. qualitativ: in Bayern und Sachsen besitzt
das Unterhaus nur ein formelles Vorrecht, das
Zuerstberatungsrecht; in Preußen, Elsaß-Lothrin-
gen, Württemberg, Baden, Hessen auch ein ma-
terielles, ein Stimmübergewicht, das aber wieder
abgestuft ist. In Preußen und dem Reichslande
reicht es weiter als in Württemberg, Baden und
Hessen und auch innerhalb dieser beiden Gruppen
bestehen Unterschiede. Z Z
2. quantitativ: dem Privileg unterliegen in den
einen Staaten mehr, in den anderen weniger
Arten von Gesetzen; auch begegnet, daß das for-
melle Privileg für mehr Gesetze gilt als das ma-
terielle. ç
Der Umfang des Privilegs hat in Baden, Würt-
temberg und Hessen aus Anlaß der Wahlreform
in der Hauptsache Einschränkungen erlitten. Die
Oberhäuser machten die Erweiterung des Wahl-
rechts der Volkskammer von Ausdehnung des
Budgetrechtes der I. K mit Erfolg abhängig.
Sie erhielten bei Finanzvorlagen ein provisorisches
Amendierungsrecht. Im allgemeinen läßt sich der
gegenwärtige Rechtszustand in Deutschland so
bestimmen. Die II. K besitzt in allen Staaten
mit Zweir System bei Finanzvorlagen Vorrechte.
Nicht für alle die gleichen. Weitergehende zum
Teil insbesondere bei Etatsentwürfen. Für alle
oder die wichtigsten Finanzvorlagen hat das Unter-
haus ein Zuerstberatungsrecht, für die Etatsgesetze
(außer in Bayern und Sachsen) auch ein Stimm-
übergewicht. In Preußen und Elsaß-Lothringen
geht es dahin: das Oberhaus besitzt beim Staats-
voranschlage keine positive Gewalt (kein Amen-
dierungsrecht), sondern nur eine negative, aber eine
sehr starke, den Etat im ganzen zu verwerfen.
In Baden, Württemberg und Hessen steht der I. K
auch ein Amendierungsrecht zu, dafür aber ge-
ringere negative Gewalt. Das Unterhaus hat
ein unbedingtes Verwerfungsrecht, das Oberhaus
nicht. In Baden gilt sogar: wenn die II. K den
Etat von vornherein ganz ablehnt, gelangt er
überhaupt nicht an die andere K. Verwirft da-
gegen die I. K die Etatsbeschlüsse des Unterhauses
bei der Schlußabstimmung, so findet Zusammen-
zählen der Stimmen beider K (in Württemberg
und Baden ein Durchzählen, in Hessen ein Durch-
stimmen) statt. Da dabei einfache (absolute) Mehr-
heit maßgebend ist, vermag die II. K, wenn sie
geschlossen bleibt, allein zu entscheiden, weil sie
Landtag
mehr Stimmen zählt: der Etat kann hier also nie
gegen den Willen der geschlossenen II. K, wohl
aber gegen den Willen der geschlossenen I. K an-
genommen werden.
Natürlich ist auch möglich, daß das Oberhaus,
namentlich wenn es an Mitgliedergahl nicht zu sehr
hinter der anderen K zurücksteht, im Verein mit
einer Unterhausminderheit siegt. Darum tritt
in Baden das Zusammenzählen nicht mehr von
selbst, sondern nur ein, wenn das Unterhaus oder
die Regierung es will. Außerdem kann die Re-
gierung, wenn die Vorlage von ihr ausgeht, das
Zusammenzählen immer hindern, indem sie die
— — — — — — E — — — —
Vorlage zurückzieht. Mehr g#stiegen ist indes die
Wahrscheinlichkeit, daß die II. K Sieger bleibt,
denn durch die Aufnahme von berufskörperschaft-
lichen Mitgliedern in das Oberhaus ist dieses in
etwas demokratisiert und so die Möglichkeit der
Verbindung von Oberhausminderheiten mit der
II. K erhöht worden.
Um das Stimmenverhältiis zwischen beiden K nicht zu
verändern, wurde bei der Vers Reform in Baden, Württe m-
berg und Hessen mit der Vermehrung der Sitze des Ober-
hauses auch die Zahl der Abgeordnetenmandate erhöht.
Die I. K zählt in Württemberg rund 60, die II. K 93 Mit-
glieder. In Baden ist das Verhältnis (rund) 40 zu 73; in
Hessen stehen (rund) 39 Ober- nur 58 Unterhausmitglieder
gegenüber. Dabei sitzen hier in der I. K nicht weniger als
16 Standesherren gegen 23 in Bayern, 24 in Preußen, 6 in
Baden, 3 in Sachsen. Am stärksten ist die I. K daher in Heis-
sen; in Württemberg hat sie durch Uebertritt der Ritter in
sie die katholische Majorität verloren.
Hervorzuheben ist noch, daß die Einräumung
eines Amendierungsrechtes an die I. K die An-
wendung des Zusammenzählens seltener macht.
Es kommt leichter Verständigung zustande. Der
I. K wird nicht nur Nachgeben zugemutet.
II. Die geminderte Rechtsstellung der I. K
auf finanziellem Gebiete erklärt sich äußerlich:
aus dem Streben des Volkshauses nach größerer
Macht. Wären innere Gründe maßgebend, so
würde die Rechtzlage nicht so verschieden sein.
Entstanden ist das Privileg der II. K in England,
und zwar lediglich aus einem Streben des Unterhauses nach
Erweiterung seiner Macht. Weil dem Privileg innere Recht-
fertigung fehlte, wurde es bei der Uebertragung nach Ame-
rika und auf den Kontinent ermäßigt. Die Union übernahm
es als englisches Kolonialland, drückte das Borrecht aber zu
einem bloßen Prioritätsrechte herab, weil sie ihr Oberhaus
auch als Wahlnerrichtete. Auf dem Kontinente zog es in
Deutschland ein, weil hier I. K von der Art des englischen
Oberhauses (hoher Adel) entstanden, aber man milderte ab.
Bayern und Sachsen übernahmen nur das amerikanische
Privileg, Baden, Württemberg, Hessen zwar das englische,
jedoch mit Abschwächung durch das Zusammenzählungs-
Prinzip; Preußen folgte England ganz, aber unter Be-
schränkung des Ausschlusses des Abänderungsrechtes auf den
Etat.
Seit die Parteien daran mitwirken, werden Verfassungs-
fragen fast nur vom Individualprinzipe aus behan-
delt. Bei den Verfassungsreformen der letzten Zeit handelte
es sich lediglich um Machtkampf zwischen den K. Als die 1II.
K in Baden, Württemberg, Hessen in die Erweiterung des
Budgetrechtes der Oberhäuser willigten, wurden sie entfernt
nicht von dem Gedanken geleitet, dies diene dem Staatswohl,
sondern sie taten es von dem Gesichtspunkte aus, die 1. K.
seien durch das Zuwahlsystem weniger aristokratisch gewor-
den; also könnten sie mehr Volksrechte erhalten. Die Reichs-
regierung hatte für die I. K Elsaß-Lothringens volle Gleich-
berechtigung vorgeschlagen. Nur um der II. K mehr Macht
zusubringen, sorderte das Zentrum das preußische System.
Innerlich restlos begründen läßt sich die Ungleichbehandlung
der K nur, wenn man das Individualprinzip über das So-
zialprinzip stellt.
Vom Standpunkte des reinen Individualprinzips aus
könnte die Frage gar nicht existieren, denn ihm widerspricht
überhaupt die Existenz einer I. K. Der Grundsatz der Gleich-
heit der Individuen verlangt das Einkammersustem, denn
wei K ganz gleicher Art, wie sie es doch sein müßten, sind
zweckwidrig. Ein kleines Kollegium darf grundsätzlich nicht
so viel Rechte haben wie ein großes. Einige privilegierte
Staatsbürger und durch kleinere Wablkörper berusene Volks-