Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

312 Mebersicht der politistzen Entwickeln ug des Jahres 1892. 
ein anderer antisemitischer Prozeß in diesem Jahre. In dem 
Städtchen Kanten am Niederrhein war ein Knabe ermordet gefun- 
den worden, ohne daß sich über den Mörder oder die Ursache des 
Mordes irgend etwas feststellen ließ. Sofort war, wie das bei 
solchen geheimnisvollen Mordthaten zu geschehen pflegt, die grauen- 
volle alte Legende von dem jüdischen Ritualmord lebendig geworden. 
Ein jüdischer Schlächter, namens Buschhoff, der sich des besten Leu- 
mundes erfreute, wurde der That beschuldigt, und obgleich nach 
unendlich langwierigen Verhandlungen nicht nur nicht seine Schuld 
dargethan, sondern sonnenklar seine Unschuld erwiesen wurde, so 
sog der Haß gegen das Judentum doch die reichlichste Nahrung aus 
der Anklage und die leidenschaftlich bewegten antisemitischen Massen 
glaubten vielmehr an die Parteilichkeit des Gerichts, als an die 
Unschuld des unglücklichen Juden. 
Daß derartige tendenziöse Parteibeschuldigungen aber nicht 
bloß von Antisemiten erhoben und ausgenutzt werden, zeigte ein 
dritter Prozeß dieses Jahres. Gegen das Bochumer Gußstahlwerk 
unter Leitung des Herrn Baare wurde genau dieselbe Anklage er- 
hoben wie gegen die Fabrik des Herrn Löwe. Nur daß es sich nicht 
um Gewehre, sondern um geflickte Eisenbahnschienen diesmal han- 
delte, und daß die Anklage, gegen einen nationalliberalen Schutz- 
zöllner gerichtet, diesmal neben den ultramontanen Organen von 
deutschfreisinnigen unterstützt wurde. In beiden Fällen list übri- 
gens anzunehmen, daß die Ankläger, dort Ahlwardt, hier Fus- 
angel, nicht sowohl als bewußte Verleumder, als in der Verblen- 
dung des leidenschaftlichen Parteihasses handelten, indem sie den 
Erzählungen von Arbeitern und Angestellten der Fabriken, die teils 
auf Unkenntnis und Mißverständnis beruhten, teils wirkliche Un- 
gehörigkeiten ins Ungeheuerliche vergrößerten und verallgemeinerten, 
ohne weiteres trauten. 
Wie die deutsch-konservative, so hielt auch die sozialdemo- 
kratische Partei wieder einen großen Parteitag ab (14.—21. No- 
vember). Ein Beobachter (in den Mittheil. des evangel.-social. 
Congresses v. 15. Dez.) schildert die Versammlung folgendermaßen: 
„Seit 25 Jahren, seit 1867 hat in Berlin kein socialdemo- 
kratischer Parteitag stattgefunden. Die Eröffnungsrede Singers
	        
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