Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

88 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 
je und je bestanden hat, also auch ferner bestehen wird. Wohl nur in weitgespanntem Bogen. 
Aber immerhin, sie besteht. Es waltet auch hier ein universalgeschichtliches Entwickelungsprinzip. 
Gelingt es, dieses zu fassen, dann ist es auch möglich, auf der Gesamtentwickelungslinie den Punkt 
annähernd zu fixieren, auf welchem sich gegenwärtig die Dinge befinden. Erst dann kann auch mit 
einiger Sicherheit von den Zielen und Erwartungen der Zukunft zu reden sein. 
Wir stellen das kurze Ergebnis voran. Das erwähnte universalgeschichtliche Entwickelungs- 
prinzip ist ein stetiger Gang von anfänglich engster Vereinigung beider Gemeinschaften zu immer 
mehr sich durchsetzender Unterscheidung. Es versinnbildlicht sich dem geistigen Auge durch die 
Vorstellung zweier Kreise, welche zuerst sich decken, sich weiterhin schneiden, sodann an der 
Peripherie berühren, um endlich ganz auseinander zu streben. Die Berührung an der Peripherie 
bezeichnet ungefähr den Beharrungspunkt der Gegenwart. Der gesamtgeschichtliche Entwicke- 
lungsgang offenbart hiernach zwei Grundverhältnisformen von Staat und Kirche: ihre Einheit 
und folgeweise Verbindung, ibre Unterscheidung und folgeweise Lösung. Dort gehen 
Zwecke, Funktionen, Organe beider Gemeinschaften in einander auf oder über. Hier gehen sie 
teilweise oder ganz auseinander. Innerhalb beider Grundtypen haben sich die konkreten Gestal- 
tungen und Übergangsformen der Einheit wie Verschiedenheit gebildet. In grosser Mannigfaltigkeit 
zwar, aber doch in gewissen charakteristischen Merkmalen übereinstimmend. Ihre abgeschlossenen, 
geschichtlichen Resultate bezeichnet die Reflexion als kirchenpolitische Systeme.. Es sind drei 
solcher Systeme, welche sich auf der Linie, je der Einheit und je der Verschiedenheit von Staat und 
Kirche entwickelt haben. Ihre technische Bezeichnung bleibt vorbehalten. 
Mit diesen Feststellungen ist der Grundriss dieses Entwurfs gezeichnet. Es sind zunächst 
die entscheidenden universalgeschichtlichen Tatsachen in ihrem inneren und äusseren Zusammen- 
hang zu ordnen und kritisch zurechtzustellen (I). Demnächst wird der wesentliche Rechtsinhalt 
des in Deutschinad herrschenden kirchenpolitischen Systems zu fixieren sein (IIj). Endlich möge die 
Auseinandersetzung mit den Fragen und Sorgen der Zukunft den Gedankengang schliessen (III). 
I. Geschichtliches. Unter Verhältnis von Staat und Kirche verstehen wir Rechts- 
verhältnis, also den Inbegriff von rechtlich geordneten Beziehungen zwischen beiden. Die Ge- 
schichte eines Verhältnisses in diesem Sinne konnte erst unter Konstantin und Licinius im Jahre 
313 christlicher Zeitrechnung beginnen. Bis dahin waren die Christen entweder als angebliche 
jüdische Sekte übersehen, oder als Schwärmer mitleidig geduldet oder als Hochverräter blutig ver- 
folgt. Die Begründung eines Rechtsverhältnisses setzte staatlich anerkannte Rechtsfähigkeit der 
Kirche im römischen Reich voraus. Diese Anerkennung wurde erstmalie im Mailänder Tolrranz- 
edikt aus dem genannten Jahre gewährt. Ein wunderbarer Anfang der Geschichte des Verhältnisses 
von Staat und Kirche. Toleranz nicht etwa bloss für die Christen, sondern Freiheit und Gleichheit 
für Alle, für Christen, Heiden und Juden. Vollkommene Gewissens- und Kultusfreiheit. Das 
Mailänder Toleranzedikt, von Ranke eine der vornehmsten Urkunden der Weltgeschichte genannt, 
könnte in jeder modernen Verfassungsurkunde stehen. Es proklamierte den paritätischen Staat. 
Ohne Vermessenheit darf man der Phantasie die Frage vorlegen, was wobl geworden wäre, wenn sich 
auf dieser Grundlage das Verhältnis von Staat und Kirche weiter entwickelt hätte? VielSpaltung, 
viele Zwingherrschaft, viel Blut wäre vielleicht vermieden worden. Aber es kam anders. Noch vor 
dem Schluss des 4. Jahrhunderts war der Freibrief von 313 wieder zerrissen. Im Jahre 380 wurde 
von Theodosius die christliche Religion zur ausschliesslichen und allein berechtigten Staatsreligion 
erklärt, die Kirche zur Staatskirche, man darf nicht sagen erhoben, sondern erniedrigt. Gewiss 
glaubte der grosse Kaiser damit dem Christentum und der Kirche den besten Dienst erwiesen zu 
haben. Er hat ihr den schlechtesten getan. Er hat ihr innerstes Wesen, die Freiheit auf dem Wege 
zu Gott, verleugnet und verkehrt. In Namen Christi begann nun der Vernichtungskampf der Gesetz- 
gebung und des Schwertes gegen Heiden und Ketzer. Römischer Staat und christliche Kirche sind 
eins geworden. Der Staat hat die falsch verstandene Aufgabe des Christentums zu der seinigen ge- 
macht und führt sie mit seinen Machtmitteln durch. Diese am Ende des 4. Jahrhunderts begründete 
Einheit hat auf nicht weniger als vierzehn Jahrhunderte hinaus das massgebende Prinzip für die 
Verhöltnisbildung von Staat und Kirche abgegeben. Freilich im Gewand sehr verschiedenartiger
	        
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