148 Wilhelm van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen.
Voraussetzungen zugänglichen politischen Rechte befinden. Der Unterschied zwischen Aristo-
kratie und Demokratie liegt somit auf der Hand: Während die Aristokratie bestimmte
Kategorien der Bevölkerung auf Grund des Vorhandenseins irgend welcher persönlicher
Eigenschaften — mögen diese nun tatsächlich eine besondere Qualifikation zur Teilnahme
an der Regierung bedeuten oder nicht — bevorzugt und unter Ausschluss der übrigen
Bevölkerungsklassen zur Regierung beruft, geht die Demokratie von dem Prinzipe der
Volkssouveränität und zugleich von dem Gedanken der absoluten politischen Gleichwertigkeit
aller Staatsbürger) aus. Hierbei sind allerdings in bezug auf die Abgrenzung des Begriffes
„Staatsbürger“ grosse Verschiedenheiten möglich. Gewisse Kreise der Staatsbevölkerung
sind nach der Natur der Sache von dem Besitze oder doch von der A g der staatsbürgerliclh
Rechte und damit von der Teilnahme an der Herrschaft ausgeschlossen, hieher gehören namentlich
die Kinder, dagegen nicht, wie noch von einzelnen Schriftstellern behauptet wird,*) die
Frauen. Anderen Bestandteilen der Bevölkerung wird unmittelbar durch Gesetz der Zugang
zur Herrschaft versagt; so in der antiken Demokratie den Sklaven, in der modernen
Demokratie zuweilen den Angehörigen bestimmter Rassen oder Bekenntnisse. Im letzteren
Fall wird das demokratische Prinzip der Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen wohl
mitunter dadurch formell gewahrt, dass die vorgenannten Personenkategorien überhaupt
nicht zu dem Kreise der Staatsangehörigen gerechnet werden.
Selbstverständlich deckt sich die Zahl der zur Herrschaft berufenen Personen nicht
schlechthin mit der Zahl der in Wahrheit herrschenden. Wenngleich in der Demokratie
die Herrschaft dem Namen nach von der Gesamtheit aller Staatsbürger geführt wird, ist es
doch in Wirklichkeit nicht die Gesamtheit, sondern nur die Mehrheit der Staatsbürger,
deren Willen rechtlich und tatsächlich den Staat leitet.") Die Mehrheit? Auch das ist
nur bedingt richtig: Sobald sich innerhalb eines demokratisch regierten Staates mehr als
zwei Parteien gegenüberstehen, ist es nicht mehr die absolute Mehrheit, sondern die
relative Mehrheit, also unter Umständen eine weit unter der Hälfte der Gesamtzahl der
Staatsbürger bleibende Zahl von Köpfen, deren Willen als Staatswillen erscheint.
Alle diese Momente führen in praxi zu einer starken Einschränkung der theoretischen
Behauptung, dass es in der Demokratie die Gesamtheit des Volkes sei, der die Herrschaft
zustehe. Gleichwohl ist daran festzuhalten, dass überall da die demokratische Herrschafts-
form besteht, wo jeder Staatsangehörige unter den gleichen Voraussetzungen zur Mit-
wirkung bei der Bildung des Staatswillens berufen ist. — Innerhalb des Gesamtbegriffes
der Demokratie werden eine Reihe von Unterformen unterschieden, von denen besonders
die folgenden hervorzuheben sind.
«) Die unmittelbare Demokratie.)
Eine solche liegt da vor, wo die Staatsgewalt unmittelbar von der Gesamtheit der zur
Herrschaft berufenen Staatsbürger gehandhabt wird. In der Regel tritt die Gesamtheit der
Staatsbürger zur Ausübung ihrer Herrschaftsbefugnisse zur Volksversammlung zusammen,
die dann formell als Träger der Staatsgewalt erscheint. Indessen kann der Gesamtwille
des Volks selbstverständlich auch in anderer Weise als durch die persönliche Stimmabgabe
in der Volksversammlung festgestellt werden. In neuerer Zeit geschieht dies namentlich
durch das sog. Referendum, d. i. eine auf Begehren einer bestimmten Anzahl von Staats-
bürgern (sog. Volksinitiative) vorzunehmende schriftliche Volksabstimmung über Erlass,
Abänderung oder Aufhebung von Gesetzen ete. Der Natur der Sache nach eignet sich
die umständliche Vornahme einer Volksabstimmung nur für kleine Verhältnisse und auch
“) Jellinek, S. 706 (724), epricht von Gleichwertigkeit der „Individuen‘'.
%) S. z. B. Seydel, Vorträge, S. 18.
*) Vgl. hierüber namentlich Seydel, S. 18.
%) Vgl. Jellinck, S. 707£. (725 ff.), Seydel, Vorträge, S. 20f., Seydel, „Aus dem Staatsrechte
der Demokratie‘, Staatereobtliobe und politische Abhandlungen, 1893, Abhandlungen, S. 26 ff,