Adalbert Wahl, Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. 397
lauter vom Präsidenten auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern. Die Mitglieder des corps legislatif
wurden zwar nach allgemeinem und direktem Wahlrecht gewählt (Wahlgesetz vom 2. Februar 1852),
allein die intensivste Beeinflussung der Wahlen durch die Regierung, das Systern der „offiziellen
Kandidaten‘ und die Furcht vor der Revolution ergaben zunächst eine völlig willenlose Kammer.
Der Präsident regierte anfangs durchaus despotisch. Am 20. und 22. November 1852 fand ein
Plebiszit statt, durch das mit: überwältigender Mehrheit (7,8 Millionen gegen 250 000 Stimmen) der
Präsident zum Kaiser der Franzosen wurde. Die Kaiserproklamation fand am 2. Dezember 1852
statt, Sie brachte noch eine Steigerung des Absolutismus mit sich. 8 Jahre dauerte die Zeit des
reinen Scheinkonstitutionalismus. Erst im Jahre 1859 entschloss sich Napoleon, dessen Ansehen
nach innen und aussen seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, zu Zugeständnissen. Damit be-
ginnt die Zeit des sog. liberalen Kaisertums, (‚„l’empire liberal‘ 1860—1870). Zweierlei
Opposition, die im Lande stark, in der Kammer allerdings nur schwach vertreten war, gab den Anlass
für den Beginn der neuen Ära. Es war einerseits eine demokratische Opposition von links (Jules
Favre, Emile Ollivier), die lange Zeit in der Kammer nur durch fünf Abgeordnete vertreten war,
und, anfangs viel gefährlicher, die klerikale Opposition, welche vornehmlich durch Napoleons
italienische, den Papst bedrohende Politik aufgestachelt wurde. Ferner kamen die Gegner von Na-
poleons Freihandelspolitik hinzu. Am 24.November 1860 erschienen die Dekrete, von denen man den
Beginn des liberalen Kaisertums zu datieren pflegt; ihre Bedeutung ist eine zwiefache: einerseits
wurde es beiden Häusern gestattet, auf die Thronrede mit einer Adresse zu antworten (in der sie die
Regierung kritisieren konnten); anderseits sollten die Debatten, die bisher nur im Auszug gedruckt
wurden, in Zukunft in extenso veröffentlicht werden. Auf diese Weise hoffte Napoleon, die Linke zu
gewinnen, um sich auf sie gegen den Klerikalismus stützen zu können. Allein diese Hoffnung trog.
Die Opposition von links benützte vielmehr die neuen Freiheiten nur, um die Regierung um so
empfindlicher zu schädigen. Die Wahlen des Mai und Juni 1863 brachten die sog. „union liberale“,
eine Koalition aller oppositionellen Parteien, — Republikaner, monarchische Demokraten, Schutz-
zöllner, Klerikale, Monarchisten, letztere geleitet von dem Orl&anisten Thiers, der auch gewählt
wurde. Der Erfolg war, dass ungefähr 2 Millionen Stimmen gegen die Regierung abgegeben wurden
(5,3 Millionen für sie), und dass im ganzen 35 oppositionelle Abgeordnete gewählt wurden, darunter
17 Republikaner. Die Regierungsweise Napoleons blieb aber nach wie vor unverändert; die aus-
wärtige Lage wurde immer unbefriedigender. I. J. 1866 trennten sich zunächst 45, später mehr Ab-
geordnete von der bisherigen grossen Majorität und bildeten bald die sog. „dritte Partei“, deren
Programm es war, das „liberale Kaisertum“ fortzubilden. In dieser Partei wurde bald Ollivier, der
von der Linken zu ihr übergegangen war, die wichtigste Persönlichkeit. Im Januar 1867 erteilte die
Regierung der Kammer das Interpellationsrecht. Im Mai 1868 wurde die Presse von einer Reihe
von lästigen Fesseln befreit, im Juni öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen gestattet.
Fürs erste verstärkten aber diese Zugeständnisse nur die Opposition. Die Wahlen des Mai
1869 ergaben 3,3 Millionen Stimmen der Opposition gegen 4,4 Millionen regierungsfreundlicher
Stimmen. 90 oppositionelle Abgeordnete, darunter 40 Republikaner, wurden gewählt. Die „dritte
Partei‘ umfasste 116 Stimmen. Sie setzte im Lauf des Jahres, mit Hilfe einer Anzahl von Mit-
gliedern der Opposition weitere Zugeständnisse, darunter ein verantwortliches Gesamtministerium
durch. Auch erbielt die gesetzgebende Versammlung das Recht, ihre Vorsitzenden zu wählen, das
Recht der Initiative und der Budgetbewilligung. Dagegen wies der Kaiser die parlamentarische
Regierungsform ausdrücklich ab. Am 28. Dezember 1869 betraute er jedoch Ollivier, der über eine
starke Majorität verfügte, mit der Bildung des Kabinetts. Dieser schaffte im Februar 1870 das System
der offiziellen Kandidaturen ab. Im April wurde der Senat in eine eigentliche erste Kammer ver-
wandelt. Aber im Lande wuchs die republikanische und sozialistische Agitation mächtig an. Immer-
hin ergab ein Plebiszit (8. Mai 1870),dasdie MeinungdesVolkesüberalle verfassungsmässigen Reformen
des empire liberal vom November 1860 bis zum April 1870 aussprechen sollte, 7,5 Millionen Zu-
stimmungen gegen 1,5 Millionen Ablehnungen. Das Kaisertum schien noch einmal befestigt zu sein,
bis die furchtbaren Niederlagen gegen Deutschland es wegfegten.
” Am 13. Februar 1871 trat in Bordeaux eine am 8. gewählte Nationalversammlung zusammen;
sie bestand aus 750 Abgeordneten, von denen nur 250 Republikaner waren; die übrigen 500 waren