Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 37 
  
II. Die soziologische Staatsidee. 
Die soziologische Staatsidee,*) welche auf deutschem Boden von Ludwig Gumploviez 
begründet wurde,?) erklärt den Staat als eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer sieg- 
reichen Mepschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem 'einzigen 
Zwecke, die Herrschaft deı ersteren über die letztere zu regeln und ; gegen innere Aufstände und 
äussere Angriffe zu sichern. Als Hauptstütze dieser Auffassung dient der Hinweis auf die angeblich 
allbekannte Tatsache, dass die Entstehung von Staaten in der geschilderten Weise immer vor sich 
gegangen sei. Zwischen dem siegreichen Stamme und dem unteiworfenen sei ursprünglich eine 
ethnische Verschiedenheit vorhanden (Rassenkampf), welche sich später zu einer sozialen Klassen- 
bildung gestalte. Die Ungleichheit, sowie die Herrschaft einer Bevölkerungsklasse über die andere 
gehört demnach zum Wesen des Staates, welcher nichts anderes bedeute als eine Organisation 
dieser Herrschaft. Während sich Gumplowicz in fatalistischer Weise damit begnügt, diesen angeblich 
ewigen Charakter des Staates festzustellen, haben einzelneseiner Schüler die Hoffnung ausgesprochen, 
dass der Staat der Zukunft seinen gewaltsamen, ausbeuterischen Charakter verlieren wird.® 
Die skizzierte Lehre vom Staate bezeichnet sich als die einzig wissenschaftliche Theorie, 
der gegenüber die bisherigen Auffassungen, obwohl sie eine mehr als zweitausendjährige Entwick- 
lung aufweisen können, als blosse Klassentheorien verächtlich beiseite geschoben werden.®) Dieses 
starke Selbstbewusstsein, mit welchem die soziologische Staatslehre auftritt, ist jedoch kaum ge- 
eignet, über ihre höchst mangelhafte Begründung hinwegzutäuschen. Zunächst ist in methodischer 
Beziehung zu bemerken, dass aus der Art der Entstehung des Staates ein sicherer Schluss auf das 
innere Wesen desselben nicht gezogen werden kann. Selbst wenn der Nachweis gelungen wäre, 
dass die Unterjochung eines Volksstammes durch einen andern den Ursprung der staatlichen Ver- 
bindung darstelle, so folgt daraus keineswegs mit Notwendigkeit, dass das Wesen des Staates zu 
allen Zeiten in der Klassenherrschaft gelegen sei. Es ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass der 
Staat seinen ursprünglichen Charakter (Organisation einer siegreichen Menschengruppe) geändert 
haben kann. 
Der empirische Beweis für die Lehre, dass die kriegerische Unterwerfung den einzigen oder 
auch nur den häufigsten Entstehungsgrund des Staates darstelle, ist keineswegs erbracht worden. 
Ohne auf dieses Thema näher einzugehen, da ihm ja ein besonderer Abschnitt dieses Werkes ge- 
widmet ist, kann jedoch hier soviel bemerkt werden, dass die Vertreter der soziologischen Staats- 
idee konsequent die Veränderungen innerhalb der bestehenden Staatenwelt mit der ursprünglichen 
Entstehung des Staates verwechseln. Wenn z. B. darauf hingewiesen wird,!°) dass sich im Zwei- 
stromlande ein Staat nach dem andern durch Eroberung gebildet habe (Babylonier, Assyrer, 
Meder, Perser, Makedonier usw.), so ist damit gar nichts bewiesen. In allen diesen Fällen haben 
nicht staatslose Volksstämme miteinander gekämpft und durch Unterwerfung einen bisher nicht 
existierenden staatlichen Verband erzeugt, sondern es haben bereits bestehende Staaten von hoher 
Kultur miteinander gerungen. Der Siegeszug Alexanders des Grossen vernichtete das Reich der 
Perser und erweiterte in grossartigem Umfange das Gebiet des makedonischen Königreichs; was 
damit für die Entstehung des Staates bewiesen werden soll, bleibt, unerfindlich. Übrigens zeigt die 
Geschichte auch zahlreiche Staaten, welche durch Kolonisation auf bisher unbesiedeltem Boden, 
ohne jede kriegerische Aktion entstanden sind.) 
®) Streng genommen gibt es nioht e i n seinheitliche soziologisohe Staatsidee. Die zahlreichen Richtungen, 
welche in der soziologischen Wissenschaft vertreten sind (vgl. meine Schrift „Naturrecht und Soziologie“ 1912), 
bedingen auch verschiedene Staatsauffassungen. Allein es ist üblich geworden, jenen Ausdruck in dem ein- 
geschränkten Sinne der Rassen- oder Klassentheorie zu verwenden. In den meisten Darstellungen der allgemeinen 
Staatslehre wird übrigens diese Lehre ignori 
?) Namentlich in dem Werke „Die koziologische Staatsidee‘“, 2, Aufl. 1902; als Schüler sind zu nennen 
G. Ratzenhofer und F. Oppenheimer. 
8) So bes.F. Oppenheimer in dem Werke ‚Der Staat‘' 1909. 
®) Oppenheimer a. a. O. S. 6. 
10) Oppenheimer S. 9, 10. 
11) Die gewaltige Ausnahme, welche die United States, in bezug auf die Kampf-Theorie bedeuten, wird 
von Oppenheimer S. 10 damit erklärt, dass sich hier die auszubeutende Mensohenrasse selbst importiert hat!
	        
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