Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

44 Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 
Es gibt aber noch eine dritte Gruppe von Schriftstellern, welche die Stellung einer Frage 
nach dem Zwecke des Staates aus rein theoretischen Gründen ablehnen zu müssen glauben. Die 
Organiker, welchen der Staat als wirkliches Lebewesen erscheint, erklären, dass man nach einem 
Zwecke des Staates ebensowenig fragen könne, wie nach dem Zwecke eines Tieres oder einer Pflanze; 
von diesem Standpunkte aus könne man höchstens behaupten, dass der Staat Selbstzweck sei.) 
Zuweilen wird auch darauf hingewiesen, dass die Annahme eines Zweckes die Existenz von Vor- 
stellungen und Gefühlen voraussetze; solche sind aber in der bisherigen Erfahrung nur im Bereiche 
der Einzelscelen festgestellt worden. Der Staat könne sich daher keine Zwecke setzen, weil ihm die 
entsprechenden seelischen Voraussetzungen fehlen, die selbst dann, wenn man die Existenz eines 
Gesamtwillens anzunehmen geneist ist.) Ohne dass hier auf die Widerlegung der vorstehenden 
Bedenken näher eingegangen werden kann, muss darauf verwiesen werden, dass das Problem des 
Staatszweckes doch einen Sinn urd eine Berechtigung besitzen muss, weil es sonst unbegreiflich 
wäre, wie sich eine Reihe der hervorragendsten Philosophen und Politiker im Verlaufe vieler Jahr- 
hunderte mit diesem Gegenstande eingehend beschäftigt haben. Es gilt nun, den Sinn des ganzen 
Problems in Kürze festzustellen. 
Von einem Staatszwecke im objektiven Sinne kann insofern die Rede sein, als die Institution 
des Staates bestimmte geschichtliche und kulturelle Wirkungen mit sich bringt. Diese Folgewir- 
kungen des Staates knüpfen sich entweder gleichartig an alle geschichtlich bekannten Volksgemein- 
schaften, oder sie tragen einen spezifischen Charakter, d. h. sie bilden eine spezifische Wirkung kon- 
kreter Staatseinrichtungen. In diesem Sinne kann man von allgemeinen und besonderen Staats- 
zwecken in objektivem Sinne sprechen. Der Gebrauch dieses Ausdruckes ist ebenso berechtigt 
wie in der Naturforschung, welche z. B. von den Zwecken einzelner Organe der Tiere und Pflanzen 
spricht; es wird gesagt, dass ein Organ der Abwehr äusserer Gefahren, ein anderes der Ernährung, 
ein anderes der Fortpflanzung dient. Bei dieser Betrachtung des Staates handelt es sich keineswegs 
um eine spekulative Untersuchung, um etwas, was dem Bereiche der Metaphysik angehört; der 
Staatszweck im objektiven Sinne bewegt sich vielmehr durchaus auf dem Boden der Empirie.') 
Man kann aber auch die Frage so formulieren, dass der Staatszweck im subjektiven Sinn 
festgestellt werden soll, d. h. die Summe jener Zweckvorstellungen, welche die im Namen des Staates 
handelnden Personen beherrschen. Auch diese Vorstellungen gehören der Wirklichkeit an, sind aber 
nur für denjenigen unmittelbar gegeben, welcher Staatszwecke realisiert. Für andere Menschen 
kann nur auf indirektem Wege das Dasein dieser Zweckvorstellungen festgestellt werden. Besonders 
schwierig erscheint die Konstatierung solcher Vorstellungen für eine weit zurückliegende Vergangen- 
heit; ausgeschlossen ist es jedoch keineswegs, dass mit Hilfe historischer Dokumente eine Rekon- 
struktion der subjektiven Zweckvorstellungen herbeigeführt wird. Das Ergebnis solcher For- 
schungen muss keineswegs mit jenen Tatsachen übereinstimmen, welche vorhin als objektiver 
Staatszweck bezeichnet worden sind. Ereignet es sich doch nicht selten, dass die tatsächlichen 
Wirkungen von Willensakten anders gestaltet sind, als sie nach der subjektiven Zweckvorstellung 
eintreten sollten. So wäre es insbesondere möglich, dass die zunächst im eigenen Interesse von 
einem Monarchen oder einer herrschenden Gruppe inszenierten Massregeln in Wirklichkeit Folgen 
herbeiführen, welche den Interessen der Untertanen dienen. In der Regel wird allerdings der Staats- 
zweck im objektiven und im subjektiven Sinne vielfach zusammentreffen. 
Eine dritte Bedeutung, welche der Frage nach dem Zwecke des Staates beigelegt werden kann, 
ist darin gelegen, welche Aufgaben der Staat verfolgen soll, also Staatszweck im ethisch-poli- 
tischen Sinne. Dabei kann man wieder unterscheiden zwischen dem sog. absoluten Staatszwecke, 
welcher für alle Staaten als verbindlich behauptet wird, und dem relativen Staatszwecke, welcher 
aur für einen bestimmten Staat oder doch für die Staaten einer bestimmten Kulturperiode er- 
mittelt werden soll. \Ver die unendliche Fülle der Vorschläge betrachtet. welche im Laufe der 
”) Prouss in Schmollers Jahrb. 1902 II S. 118, 119. 
3) So neuestens Kelaen on. a. O, S. 495, 6093. 
®) Ich stehe hier im vollen Gegensatz zu den Ausführungen Jellineks S.223 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.