Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung. 53 
Hat die naturrechtliche Lehre den Staatszweck zu sehr eingeengt, so dehnte ihn die eudai- 
monistisch-utilitarische Theorie ins Schrankenlose aus. Als Reaktion folgte auf sie eine abermals 
zu weit gehende Beschränkung durch die Rechtstheorie. Diese wichtigen Lehren so wie einige neue 
und alte, die zu neuer Blüte kamen, sind im folgenden noch näher zu untersuchen. Erst nach Über- 
windung der spekulativen Methode in den Staatswissenschaften, die sich stets an einen Idealstaat 
klammerte und die tatsächlichen Verhältnisse nicht berücksichtigte, wandte man sich den realen 
Verhältnissen und bestehenden Staaten zu, um nach ihren Aufgaben zu forschen, 
8 2. Die einzelnen Zwecktheorien. 
1. Dieeudaimonistisch-utilitarische Theorie. 
Die eudaimonistisch-utilitarische Theorie sagt, der Staat habe den 
Zweck, für das allgemeine Beste seiner Glieder zu sorgen. Der Satz enthält, wie es auf den ersten 
Blick scheint, eine banale Selbstverständlichkeit; tatsächlich ist er allen Zeiten wohl bekannt und 
in allen Schulen mit grösserer oder geringerer Deutlichkeit zu finden. Die allgemeine Wohlfahrt 
kann als Zweck auch mit allen anderen Zwecken verbunden und alle anderen können diesem einen, 
höchsten Zweck untergeordnet werden. Glückseligkeit’soll der Staat nach Plato und Ari- 
stotelesnicht minder bezwecken wienach Cicero, der christlichen Lehre, nach Hobbes") 
und vielen anderen. Aber im 18. Jahrhundert findet die Lehre zum erstenmal gründliche Bear- 
beitung und eine Formulierung, die sie zur höchsten Blüte bringt. Der Wohlfahrtszweck wird gegen- 
über allen anderen Staatstätigkeiten derartig in den Vordergrund gerückt, dass ihm überhaupt das 
gesamte Handeln des Staates untergeordnet und alles nur im Hinblick auf diesen obersten Zweck 
geübt wird. Die Theorie ist im extremen Sinn expansiv, d. h. sie steigert die Macht des Staates ins 
Ungemessene, denn ihmallein kommt die Entscheidung darüber zu, was zum Wohle der Gesamtheit 
sei und was nicht. So wird die Lehre zum Evangelium für den absoluten Staat, für die absolute 
Monarchie sowohl wie für die Demokratie. 
Ihre Formulierung im 18. Jahrhundert knüpft man in der Regelan den Namen Christian 
Wolff, der einer ihrer wärmsten Verteidiger ist. Er vertritt die extremste Form der Wohl- 
fahrtstheorie, die sich durch seine sämtlichen staatswissenschaftlichen Werke hindurchzieht. Er 
führt den Gedanken, dass das allgemeine Wohl alle Handlungen der Staatsbehörden zu bestimmen 
habe, bis in die kleinsten und nebensächlichsten Angelegenheiten durch und rechtfertigt jeg- 
lichen Eingriff des Staates in das Privatleben der Untertanen. Am eingehendsten befasst er sich 
damit in seiner „Politik“.*) Die Untertanen haben unbedingt zu gehorchen, denn sie sind prin- 
zipiell beschränkt von Verstand und können insbesondere das allgemeine Beste vom eigenen Wohl 
nicht unterscheiden. „Und ist der Geborsam um so viel mehr nöthig, weil die Unterthanen nicht 
immer in dem Stande sind, zu urtheilen, was zum gemeinen Besten gereichet, weil sie von der Be- 
schaffenheit des gantzen gemeinen Wesens und seinem wahren Zustande nicht genugsame Erkäntnis 
haben. Sie urtheilen gemeiniglich bloss darnach, ob esihnen vortheilhafft sey, was befohlen wird, oder 
nicht. Allein es pfleget gar offt zu geschehen, dass dem gantzen gemeinen Wesen erspriesslich ist, 
was einem oder dem andern von den Unterthanen nachtheilig befunden wird. Im gemeinen Wesen 
aber muss die gemeine Wohlfahrt der besonderen vorgezogen werden.) So begründet Wolff 
die Omnipotenz des Staates aus seinem Zweck. Er musste auf Grund seiner Auffassung vom 
Staat und der Gesellschaft zu dieser Zwecktheorie kommen. „Wenn Menschen“, sagt er an einer 
anderen Stelle desselben Werkes?®), „mit einander eines werden, mit vereinigten Kräften ihr Bestes 
worinnen zu befördern; so begeben sie sich mit einander in eine Gesellschaft. Und demnach ist 
die Gesellschaft nichts anderes als ein Vertrag einiger Personen mit vereinigten Kräften ihr Bestes 
worinnen zu befördern. ...... Da wir nun diese Wohlfahrt durch die Gesellschaft zu erhalten 
gedencken; so ist die Absicht der Gesellschaft und die Gesellschaft ein Mittel, die gemeine Wohl- 
#) De cive. XIII. 2,3, 6. 
%) Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem 
gemeinen Wesen. (1726). 
®) A. a. O. $ 433. Vergl. ferner $ 218. 
”) 55 288.
	        
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