106 Julius Wolf, Die öffentlichen Abgaben in Deutschland.
was ich, besonders auch wegen der Weiterwirkung der Agrarzölle auf die Preise von Getreide
usw. im Inland überhaupt bezweifle, so ist eben noch mehr zu verlangen: nämlich dass die
mittleren und vollends die oberen Klassen nicht nur mindestens ebensoviel
im Verhältnis zu ihrer, namentlich in der Einkommenshöhe liegenden Leistungsfähigkeit im
ganzen an Steuern tragen, wie die unteren, sondern dass sie verhältnismässig mehr
tragen. Das ist aber bei der immerhin schon eingetretenen bedeutenden Steigerung der Er-
träge unserer Zölle und Verbrauchssteuern bisher nicht erreicht worden.“ ®)
Demgegenüber ergab meine Rechnung, dass das Steuersystem von Reich, Staat und
Gemeinde kombiniert in Deutschland nicht nur die Proportionalität, sondern auch die vor-
stehend geforderte, aber fürs erste noch vermisste Progression realisiert,“) selbst dann,
wenn man die nicht dem Staate zufallende Belastung der Konsumenten durch die Zölle in
Anrechnung bringt!
Inzwischen ist allerdings die letzte Reichsfinanzreform ins Land gegangen. Es ist aber
nicht anzunehmen, dass sie das Verhältnis der Belastung zu ungunsten der kleinen Einkommen
verschoben hat. Denn die bundesstaatlichen und Gemeindesteuern, die das Prinzip der Gerechtig-
keit besonders stark betonen, und dadurch einen Ausgleich für die umgekehrte Progression der
Reichssteuern schaffen, haben in dieser Zeit keine geringere Steigerung als die letzteren erfahren.
Ueberdies haben die Deckungsvorlagen von 1913 weitere direkte Reichssteuern gebracht.
Nach alledem darf sogar behauptet werden, dass die Steuerprogression in Preussen heuteschon
wieder eine schärfere ist als die vorhin auf Grund der Verhältnisse hauptsächlich von 1907 berech-
nete. Ohne auf das Einzelne der Daten hier näher eingehen zu wollen, kann nämlich nunmehr ausge-
sprochen werden, dass wenn die Tausend-Mark-Einkommen in Preussen dank der Reichsfinanz-
reform gegenwärtig mit Steuern von nicht weniger als 12—13%, im Mittel 131, °%, belastet sein
sollten, die Belastung der Hunderttausend-Mark-Einkommen unter Berücksichtigung aller ins
Gewicht fallenden Faktoren im Durchschnitt wohl nahe an 18 %, geht. Vorausgesetzt ist dabei
allerdings ihre Erfassung zum vollen Betrage unter der Einkommens- und Vermögenssteuer. Würden
gegenwärtig etwa nur 9/,, (oder nur %/,) erfasst, so würde der Durchschnittssatz der Steuer für diese
sehr grossen Einkommen eine Ermässigung auf ca. 161, (oder 15) %, erfahren müssen. Dies
also das bei Berücksichtigung aller möglichen Faktoren, auch solcher, die sonst in die Rechnung
nicht einbezogen werden, sich ergebende Bild.
Die „Entwicklung“ geht aber, zumal mit dem Wachstum der Gemeindesteuerzuschläge,
mit dem allmähligen Steigen der bundesstaatlichen Einkommensteuerprozente, das von den
Gemeinden durch ihre Zuschläge wieder potenziert wird, mit der immer schärferen Erfassung der
steuerpflichtigen Einkommen und Vermögen, zweifellos weiter in der Richtung stärkerer
Progression, die Differenz der Steuerbelastung zwischen grossen und kleinen Einkommen nimmt
nicht ab, sondern wächst, und der Zeitpunkt ist mit ziemlicher Sicherheit abzusehen, wo
grösste Einkommen in Preussen-Deutschland durchschnittlich 20 %, an Steuern, in der Industrie
gewonnene und Dividenden- Einkommen sogar noch mehr zu entrichten haben werden.®) Mit
Bezug auf die kleinsten Einkommen sind demgegenüber Tendenzen wirksam, die eher zu einer
») Vgl. Ad. Wagner, Die Reichsfinanznot, 1908.
®) Neuerdings ist man von der gegentei'igen Meinung mehr und mehr zurückgekommen. Dafür ver-
weist man aber mit Vorliebe darauf, dass bei Erreohnung des sogenannten freien Einkommens sioh andere
Progressionssätze oder gar eine umgekehrte Progression ergebe. Mit diesem Hinweis bekennt man sioh aber zu
einem sehr bedenklichen Steuerideal. Zumindest schliesst er die Forderung ein, dass ein beträchtliohes Ein-
kommen von jeder Steuer frei sein muss, ohne dooh diese Forderung meinem Urteil nach irgend überzeugend
rechtfertigen zu können. Die Folge davon wäre, dass der Staat die grösseren Einkommen in einer Weise
ia Anspruch nebmen müsste, die die Kapitalbildung und Unternehmerfreudigkeit nioht blos geführden,
sondern nahezu lihmen würde,
%) Vgl. die jüngsten Zusammenstellungen und Bemerkungen über die versohiedene Höbe der Besteuerung
des aus verschiedenen Quellen £liessenden Einkommens in der Denkschrift von Alexander Tille, Die
Steuerbelastung der Industrie in Reich, Bundesstaat und Gemeinde, 1911. Allerdings werden hier die Über-
wälzungen im allgemeinen nicht berücksiohtigt.