Ludwig Weber, Ghristlich-Soziale. 11
und Staat und ihre praktische Betätigung in der Gesetzgebung“. Dass das religiöse Motiv nicht
für alle politischen Fragen den Ausschlag geben kann und dass diese nicht sämtlich religiös be-
stimmbar, dass ferner die Mittel und Funktionen des Staats notwendig weltlich und nicht
religiös-sittlich sind, dass die staatlichen Gesetze sich nur auf das äussere Handeln richten,
wird in der konservativen Literatur ausdrücklich hervorgehoben.) Dem Staat wird „das Recht
zuerkannt, kraft seiner Souveränität sein Verhältnis zur Kirche: zu ordnen‘; andererseits
wird gegen ein „Übergreifen der staatlichen Gesetzgebung auf das Gebiet des inneren kirch-
lichen Lebens‘ Verwahrung eingelegt. Prinzipiell wird die konfessionelle Volksschule verlangt.
Doch beweist das preussische Gesetz über die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen vom
28. Juli 1906 (welches von den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen gemeinsam
bewilligt ist), dass die Konservativen aus schultechnischen Erwägungen eine Einschränkung des
Prinzips für zulässig erachten. Einzelne Konservative haben sich mit dem Gedanken der Trennung
von Staat und Kirche befreundet. Die Partei lehnt ihn ab (mit Rücksicht auf die wünschenswerte Ein-
wirkung der Kirche auf das Volksleben und die Ausbildung der Geistlichen), tritt jedoch „für das
gute Recht der evangelischen Kirche auf selbständige Regelung ihrer inneren Einrichtungen“ ein.
Wie schon angedeutet, ist der konservativen Partei die historische Aufgabe zugefallen, dem posi-
tiven Christentum in der evangelischen Kirche freie Luft zu verschaffen. Die Verbindung bestimmter
kirchlicher Richtungen mit bestimmten politischen Parteien ist eine Folge der Existenz stark
differierender theologischer Richtungen in der protestantischen Kirche (unter der Voraussetzung
der bestehenden engeren Verbindung von Staat und Kirche). In Preussen, mit seiner starken kon-
servativen Partei, besteht jedoch Parität für die verschiedenen theologischen Richtungen (die
Hälfte der theologischen Lehrstühle ist mit liberalen Theologen besetzt), während in den Staaten
mit ausschlaggebender liberaler Partei im Landtag (Baden, Hessen, Thüringische Staaten) die
Vertreter der positiven Theologie so gut wie ganz von den Universitäten ausgeschlossen sind.
Die freikonservative Partei unterscheidet sich in der Kirchenpolitik von der deutschkon-
servativen insofern, als sie etwas stärker das Recht des Staats betont, ferner in einem weniger
nahen Verhältnis zu bestimmten kirchlichen Richtungen steht und in den parlamentarischen
Verhandlungen eine Verständigung mit den Nationalliberalen zu vermitteln gesucht hat.
In neuester Zeit hat die freikonservative (Reichs-) Partei sich in Süddeutschland organisiert,
so in Baden 1907, in Bayern 1911 (vgl. Frh. v. Pechmann in d. Allg. Zeitung vom 19. Okt. 1912),
in Hessen 1912 (hier die Deutschkonservativen mit umfassend).
b) Christlich-Soziale.
Von
D. Ludwig Weber, München-Gladbach.
Die christlich-soziale Partei entstand 1878 als „Arbeiterpartei durch Hofprediger Stöcker
unter Mithilfe von Professor Dr. Adolf Wagner. Als Stöcker von Metz nach Berlin kam, fand er
die Mächte des Umsturzes damals schon in vollster, zügellosester Arbeit. Gründerära, Kultur-
kampf, Kirchen- und Wohnunganot, eine schlechte Presse, Mangel an sozialer Reformtätigkeit
und völlige Fühlungslosigkeit zwischen Besitzenden und Arbeitern hatten eine Verwirrung und
Vergiftung der Voik:seele herbeigeführt, und niemand wehrte ihr. Da trieb Stöcker ‚die Angst: um
2ı) Vgl. z.B. R. Seeberg, Christlich-protestantische Ethik. in: Kultur der Gegenwart I, IV, 2. S. 223.
Derselbe. System der Ethik (Lpz. 1911).