Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

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Friedrich Zahn. Das Deutsche Volk. 
  
so ist doch keineswegs eine Proletarisierung der Gesellschaft, keine zunehmende Verelendung der 
Massen eingetreten. Dies war so wenig der Fall, dass die gegenteilige Annahme (Karl Marx) auch 
von den Sozialdemokraten selbst (Bernstein, Schönlank, Kautsky usw.) nicht mehr aufrecht er- 
halten, sondern zum alten Eisen geworfen wird. 
Anderseits ist selbstverständlich, dass bei dem sozialen Aufbau der Bevölkerung die Arbeiter- 
klasse die breiteste Schicht einnimmt. Indessen finden sich in der untersten Klasse keineswegs die 
schlechtesten Elemente der Gesellschaft, sondern viele verjüngende, belebende Kräfte des Volks- 
tums. Während die verlebten Elemente von oben nach unten herabsinken, erfolgt im weiten Um- 
fang ein Aufstieg junger, tüchtiger Elemente des Volkes von unten durch den neugeschaffenen 
Mittelstand in die Höhe der sozial besser gestellten Kategorien. Das Volk verjüngt sich von 
unten nach oben. 
Bei all diesen Betrachtungen bilden übrigens die berufsstatistischen Nachweise zwar wichtige 
Unterlagen für die Kenntnis der bestehenden Klassenunterschiede. Aber die soziale Schichtung 
wird keineswegs bloss durch die Stellung im Beruf bedingt. Fast noch mehr von Einfluss ist Be- 
sitz und Höhe des Einkommens und dessen Verhältnis zu den 
Bedürfnissen. Der Gegensatz des Besitzes teilt jeden Berufsstand in einen vermögenden 
und einen vermögenslosen Teil und bringt in die gesamte soziale Klassenbildung manche wesent- 
liche Modifikation, wie wir beispielsweise bereits oben zum neuen Mittelstand die qualifizierte 
Arbeiterschaft zu rechnen hatten, deren Gehalt und Lohn den Verdienst des selbständigen Hand- 
werkers übersteigt. Das Besitzmoment ist für die moderne Klassenbewegung noch besonders von 
Belang in Anbetracht der heutigen Beweglichkeit der Arbeit sowie der Beweglichkeit und Teil- 
barkeit des Besitzes, wonach man mit seinem Besitz — Grundbesitz, Kuxe, chemische, Brauerei-, 
Bank-Aktien usw. — in den verschiedensten Berufen stehen kann, ohne s:ch mit seiner Person an- 
passen zu müssen oder zu können. Indessen hat gerade die Vergesellschaftung unserer Grossbetriebe 
eine Milderung im Gegensatz des Besitzes ermöglicht. Anstatt dass, wie Karl Marx meinte, je ein 
Kapitalist viele totschlug, erzeugte das vergesellschaftete Grossunternehmen eine Mehrzahl von 
Kapitalisten, als Aktionäre, Gesellschafter usw., als welche heute auch kleinere Kapitalsbesitzer 
und besser gestellte Arbeiter am Kapitalgewinn der Grossbetriebe partizipieren. Mit anderen 
Worten, die Dezentralisierung des Kapitals im Zusammenhang mit der Entwicklung der Aktien- 
gesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung etc. wirkte dem an sich vorhandenen 
Gegensatz des Besitzes innerhalb der Klassen wenigstens etwas entgegen. 
Überdies muss bei Abmessung des sozialen Gewichts der sozialen Schichten nicht bloss 
die Quantität berücksichtigt werden, sondern auch ihre qualitative oder dynamische Be- 
deutung, nämlich die Bedeutung der Individuen für das Ganze nach Massgabe persönlicher Eigen- 
schaften des Geistes, Charakters usw. Die Industriekapitäne, die Betriebsleiter von Hunderten oder 
Tausenden von Personen, die Männer, die einen entscheidenden Einfluss im wirtschaftlichen Leben, 
ausüben bezw. ausgeübt haben, die Pioniere der industriellen und kommerziellen Armee, die 
sogenannten Kulturträger, können nicht auf gleicher Stufe sozial eingeschätzt werden wie die 
ebenfalls in der Selbständigen-Schicht von der Statistik gezählten Näherinnen, Waschfrauen usw. 
Es handelt sich im ersteren Fall um Führer, Organisatoren grossen Stils, kulturelle Vorkämpfer 
die mit Wagemut und kräftiger Energie, mit Kenntnis des Bedarfs und der Absatzfähigkeiten, 
mit sicherem Blick für die Vorbedingungen einer weiteren nationalen Wohlfahrt, mit Übung in 
der Kunst der Menschenbehandlung sich als geistige Triebkräfte — jeder innerhalb seines Wirkungs- 
kreises — durchsetzen und Grosses im Gesamtinteresse, im Dienste der wirtschaftlichen, politischen, 
kulturellen Mission des Vaterlandes leisten. Solche Individualitäten, solche Persönlichkeiten, die 
sich nicht bloss in der statistischen Klasse der Selbständigen, sondern auch in der der Angestellten 
und Arbeiter finden, kommen in der alles nivellierenden Statistik nicht gebührend zur Geltung. 
Und doch sind sie für das Emporsteigen des Volkes von hohem Belang. Bei Analysierung des Volks- 
gefüges nach der quantitativen Seite darf man also die qualitative nicht ausser acht lassen, sonst 
ommt man bei einer Gliederung nach sozialen Schichten zu unrichtigen Massverhältnissen, die 
in der Sozial- wie in der Wirtschaftspolitik leicht Schaden anrichten.
	        
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