214 Friedrich Zahn, Das Deutsche Volk.
behrlicher, während der unqualifizierte Arbeiter, der nur seine Muskelkraft einsetzen kann, durch die
technischen Fortschritte an Bedeutung verliert. Darum wird die industrielle Führung künftig
weniger dem Staat mit den meisten Menschenkräften, sondern dem Staat mit den intelligentesten
Arbeitern zufallen. An die allgemeine Volksschulpflicht wird sich also bald eine Pflicht zur
beruflichen Ausbildung reihen müssen, je mehr wir genötigt sind, auf fremden Märkten mit
differenzierter hochentwickelter Qualitätsware zu konkurrieren.
Als weltwirtschaftlicher Industrie-, Handels- und Gläubigerstaat hat das Deutsche Volk
ferner erhebliche Interessen im Ausland. Diese erheischen Schutz und Förderung durch
zielbewusste Auslandspolitik, durch Rückhalt an einem geeinten land- und seestarken Mutterland.
Die Erhaltung des offenen Markts wird nach wie vor besondere Aufgabe dieser Auslandspolitik sein,
denn wir müssen notwendigerweise einen Teil unserer Waren im Ausland absetzen, wenn wir nicht
Blut statt Gold, Menschen statt Waren exportieren wollen. Anderseits ist es wichtig, dass
heimische Organisationskräfte und heimische Kapitalien im Auslande grosse Kulturarbeiten über-
nehmen und dass sie Macht und Ansehen des Reichs, abgesehen. von den dem Heimatland zu-
fliessenden Gewinnen und Zinsen, auch durch das dem deutschen Namen verschaffte Prestige för-
dern. Durch verständiges Zusammenarbeiten von Regierung, Kapitalistengruppen, Privat-
organisationen und speziellen Sachverständig‘n können die deutschen Interessensphären in aus-
sichtsreichen Zukunftsgebieten wesentlich ausge«’ehnt werden. Das Auslandsdeutschtum aber,
in dem bedeutsame Werte für die wirtschaftliche und kulturelle Weltstellung des Deutschen
Volkes verkörpert sind, bedarf nach wie vor seitens des Mutterlands warmherziger Fürsorge,
bierdurch helfen wir ihm die sprachliche und geistige Gemeinschaft mit der deutschen Nation
wahren und stärken wir die Stellung des Deutschtums in der Welt,
Daneben ist eine ausgleichende Wirtschaftspolitik im Innern unerlässlich.
Wir haben Bundesstaaten und Reichsteile mit geradezu stürmischem wirtschaftlichen Aufschwung
und solche mit wesentlich langsamerem Tempo. Bei letzteren handelt es sich vornehmlich um
Agrarbezirke, die gerade bei der zunehmenden Industrialisierung und Verstadtlichung des Reichs
hoch im Kurse gestiegen sind und noch steigen werden, sowohl als Menschenproduktionsstätt
für Industrie und Wehrkraft und als unentbehrliche Lieferanten von Lebensmitteln wie als
wichtige Reserve für künftige intensivere Wirtschaft. Soweit sie fiskalisch negativ sind, muss
ibnen im Weg ausgleichender Wirtschaftspolitik zur Pflege der Kulturaufgaben unter die Arme
gegriffen werden. Denn auch ihre Leistungen liegen im ureigensten Interesse der Selbsterhaltung
von Reich und Volk. Hierher gehören u. a. Massnahmen, die im Gegensatz zur seitherigen Ent-
wicklung eine Dezentralisierung von staatlichen und Reichsämtern bezwecken, soweit eine solche
ohne Beeinträchtigung ihrer sachlichen Wirksamkeit möglich ist.
In einer solchen Agrar-, Industrie- und Handelspolitik liegt zugleich ein gut Stück Sozial-
politik, dazu angetan, den unteren Klassen wirtschaftlich und gesellschaftlich zu helfen, ihnen
das Hineinwachsen in den Bedürfniskreis, die Denkweise, das Seelenleben der Mittelklassen zu
erleichtern. Damit muss Hand in Hand gehen die Förderung des sozialen Verständnisses. Die Unter-
nehmer sind zugänglicher zu machen für die neuen, billigen Bedürfnisse der Arbeiter, um willige und
tüchtige Kräfte zu haben, die Arbeiter müssen in die schwierigen Aufgaben der Arbeitgeber, in die
das wirtschaftliche Gedeihen der Unternehmerarbeit bedingenden Faktoren Einsicht erlangen.
Hierdurch wird die gegenseitige Annäherung, das Mitverantwortungs-, das Solidaritätsgefühl, das
Bewusstsein, dass Arbeiter und Arbeitgeber aufeinander angewiesen sind, profitieren zum Besten
des beiderseitigen wohlverstandenen Interesses.
Was diese Einsicht in die Interessengemeinschaft von Unternehmer und Arbeiter für den
Erfolg des Zusammenarbeitens bedeutet, das ist für das Gesamtinteresse im Weg besserer staats-
bürgerlicher Erziehung anzustreben. Sie muss bei richtiger Pflege zur allgemeinen
Erkenntnis des organischen Zusammenhangs, der zwischen den Berufsständen und sozialen Schichten
besteht, zum Verständnis der ganzen Volkswirtschaft als eines lebendigen Organismus führen,
in dem jeder Einzelne mit tausend Fäden ans ganze Volk geknüpft ist. Sie muss so die Ausbildung
eines starken National-Bewusstseins der Massen bewirken und das Volk von der Überzeugung
durohdringen, dass jeder Einzelne mitverantwortlich ist und auch mittätig zu sein hat für des