Friedrich Zahn, Geburtenrückgang in Deutschland. 293
alter des fortschreitenden wirtschaftlichen Denkens auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten,
die unser Problem so sehr belasten, tunlichst behoben werden. Es gilt darum, die Kosten der Kinder-
aufzucht und Berufsvorbereitung zu verbilligen oder zum mindesten nicht weiter zu verteuern.
Zu dem Zweck bedarf es einer erhöhten Wohnungsfürsorge in den Städten; cine grosszügige
Wohnreform muss mehr Luft und Raum unter annehmbarem Preis für die einzelne Familie in und
ausser dem Hause beschaffen und auch einer Familie mit grösserer Kinderzahl eine gesunde und
fröhliche Existenz ermöglichen. Auch die Erhaltung und Anlegung von zahlreichen freien
Plätzen innerhalb der Stadt, die Bildung von Gartenstädten in den Vororten erscheinen zur
Erleichterung des Aufenthalts der städtischen Kinder im Freien schr erwünscht.
odann ist eine Erleichterung der allgemeinen Lebensversorgung unerlässlich im Wege
einer den Bedürfnissen der Allgemeinheit Rechnung tragenden Zollpolitik und sonstiger
Massnahmen der Staats-, Gemeinde- und Verkehrsverwaltung. Die weitere Durchführung
der inneren Kolonisation mit Schaffung von Klein-Wohnstätten und Bauerngütern wird
sich, abgesehen von anderen Gründen, auch unter dem Gesichtspunkte der Bekämpfung des Ge-
burtenrückgangs vorteilhaft erweisen: sie vermehrt die Zahl der Eheschliessungen und hält die
Geburtenmasse wenigstens eine Zeit lang aufrecht. Ob freilich die Bauernschaft als solche auf
die Dauer die bisherige Fruchtbarkeit beibehält, lässt sich mit Sicherheit nicht erwarten angesichts
der Erfahrungen, welche sowohl in Ungarn wie in Frankreich beim dortigen Bauernstand mit
seinem vielfach ausgeprägten Ein- und Zweikindersystem gemacht wurden. Mehr ist vielleicht zu
rechnen auf die Taglöhnerfamilien, die in der Regel eine grössere Kinderzahl aufweisen, deren
Existenz allerdings das Bestehen von grossbäuerlichem und Grossgrundbesitz voraussetzt. Des
weiteren muss mit der Tatsache gerechnet werden, dass gerade unter unseren städtischen und
industriellen Arbeitern das verheiratete Element jetzt mehr vertreten ist als fiüher. Um deswillen
muss gerade hier eine besondere auf Stärkung der Familie berechnete Politik einsetzen und die
Aufzucht von Kindern erleichtern. Es kommen hierbei wohl vor allem Erziehungsbeibhilfen (z. B.
Kostenfreiheit des Unterrichts, Lehrmittelfreiheit) bei grosser Kinderzahl, eine bessere Bezahlung
verheirateter Beamten gegenüber Junggesellen in Frage. Als „Familienzulagen“ sind sie bereits
in zahlreichen Städten für städtische Arbeiter eingeführt, meist in Form einer Staffelung der Löhne
je nach dem Familienstand des Arbeiters. Derartige Familienzulagen sind beispielsweise einge-
richtet von den städtischen Verwaltungen zu Charlottenburg, Halberstadt, Halle, Hanau, Frank-
furt a. M., Düsseldorf, Krefeld, Königsberg, Mainz und Strassburg. Die Zulagen sind verschieden
gestaltet. So erhält z. B. in Krefeld ein Arbeiter nach mindestens fünfjähriger Dienstzeit für ehe-
liche Kinder unter 16 Jahren einen monatlichen Zuschuss von 4 M., wenn er bis zwei Kinder hat,
8M. für drei bis vier Kinder und monatlich 12 M. Zuschuss für vier und mehr Kinder. Mietzu-
schüsse ausser Lohnerhöhungen gewährt die Stadt Frankfurt a. M., um den Kindern der Arbeiter
eine gesunde Wohnung zu verschaffen. Verwitwete und geschiedene Arbeiter erhalten, wenn sie
Kinder haben, dieselben Zulagen wie verheiratete. Die Stadt Cottbus stellt in einem Ausschreiben
ihrem neuen 1. Bürgermeister neben seinem Gehalt noch eine pensionsberechtigte Hausstands-
zulage in Aussicht, sie ist auf 500 M. jährlich bemessen, wenn er verheiratet ist und nicht mehr als
3 Kinder unter 18 Jabre hat, auf 1000 M., wenn er mindestens 4 Kinder unter 18 Jahren zu er-
alten hat.
Für die Privatbetriebe wird dieser Weg einer Fam:ilienzulage nicht ohne weiteres gangbar
sein. Das Interesse des Arbeitgebers würde bald dazu führen, möglichst kinderarme Arbeiter ein-
zustellen. Darum wollen Arthur Schlossmann und Alfred Grotjahn den an und für sich guten Ge-
danken eines Zuschusses bei starker Familie allgemein durchgeführt sehen im Wege einer obliga-
torischen sozialen Versicherung, etwa in Gestalt einer weiter auszubauenden Familien- oder Mutter-
schaftsversicherung. Diese hätte mit wachsender Kinderzahl ein wachsendes Einkommen zu ge-
währleisten; kinderarme, kinderlose Familien, Junggesellen hätten in steigender Proportion die
Mittel aufzubringen, aus denen Kinderhilfe an diejenigen Ehepaare zu zahlen wäre, die eine grosse
Zahl noch nicht erwachsener Kinder haben. Hierdurch würde rüstigen Elternpaaren ein zahlreicher
Nachwuchs leichter erträglich werden und der unerwünschte Nachwuchs minderwertiger Eltern
würde eingeschränkt, die schwer drückenden Familienlasten, die gegenwärtig und in Zukunft