Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

330 Friedrich Zahn, Geburtenrückgang in Deutschland. 
  
geschieht, muss für das ganze erste Jahr des Säuglings ermöglicht werden, da der nicht selten be- 
stehende Mangel an frischer Wäsche und der nötigsten Pflegeutensilien sich gewöhnlich an der 
Gesundheit des Säuglings rächt. Zu dem Zweck erscheint nach dem Vorschlag von Dr. Reinach 
die gemeinnützige Errichtung von Säuglingsgegenständen- und -Wäschedepots im Anschluss an 
Säuglingsfürsorgestellen oder als eigene Institutionen zweifellos empfehlenswert. Auch die so 
erspriessliche Tätigkeit der Hauspflegevereine sollte noch weiter sich ausdehnen und speziell auf 
dem Lande mehr als bisher zur Geltung kommen. 
Aber bei der Fürsorge für die Kinder im 1. Jahr darf es nicht bewenden. Die Säuglings- 
fürsorge ist auszugestalten ın allgemeine Kinderfürsorge. Demgemäss sollten — nach dem Vorbild 
von Charlottenburg — die bestehenden Säuglingsfürsorgestellen fortgebildet werden zu Kinder- 
fürsorgestellen, damit die Kinder vom 2. bis 6. Jahr, also die sogenannten Vorschulkinder oder 
Kinder im Spielalter, nicht länger hygienisch vernachlässigt werden. Nur durch derartige Für- 
sorge für die weiteren Vorschuljabre kann der durch die Pflege des ersten Jahres erreichte Erfolg 
gesichert werden und lässt sich neuen Gefahren wirksam begegnen, die nach dem ersten Jahr bei 
Hervortreten von gewissen Krankheiten (Tuberkulgse, Rachitis, Skrofulose etc.) oder aus sozialen 
Ursachen (Not und Unvernunft der Eltern, schlechte Ernährung und Verwahrlosung der Kinder) 
sich ergeben. Bei solcher Kinderfürsorge ist anzunehmen, dass weit mehr Kinder als bisher das 
schulpflichtige Jahr erreichen und zugleich besser körperlich vorbereitet in die Schule zur geistigen 
Tätigkeit eintreten. 
Hinsichtlich der Pflege für die Schulkinder ist in den letzten Jahren bereits viel geschehen 
durch Einführung von Schulärzten und sonstige schulhygienische Massnahmen (u. a. durch Wald- 
erholungsstätten und Waldschulen). Es wird auf diesem Gebiet noch weiteres geschehen können 
und müssen. Namentlich verdient dabei die schulärztliche Zahn-, Augen- und Ohrenpflege und 
entsprechende körperliche Erziehung sowie das System der „Arbeitsschule‘ starke Berücksichtigung. 
Da aber auch mit Verlassen der Schule die körperliche Entwicklung der Jugend keineswegs 
abgeschlossen ist, sondern erst den kritischen Gefahren entgegengeht, muss die Jugendfürsorge 
sich auf die Gruppe, die zwischen Schul- und Militärpflicht sich befindet, auf die sogenannten 
Jugendlichen noch ausdehnen. Die kriminellen Erscheinungen, die Verheerungen des Alkohols, die 
Beobachtungen der Krankenkassen, die Feststellungen beim Militärersatzgeschäft lassen eine solche 
Jugendpflege dringend geboten erscheinen. Auch hierbei muss Ertüchtigung der Jugendlichen 
(und zwar beiderlei Geschlechts) Hauptziel sein. Was die Turnvereine, Wehrkraftvereine, der Jung- 
deutschlandbund, die Sportvereine etc. in dieser Beziehung neuestens leisten, verdient Anerkennung 
und weitere Förderung. Aber daneben wird an die allgemeinere Einführung von Einrichtungen 
zu denken sein, die die erwerbstätige Jugend vor Schädigungen durch Berufsarbeit sclützen. 
So sind in Schöneberg, Bremerhaven, Wien besondere Fortbildungsschulärzte angestellt, die bei 
den einzelnen Schülern prüfen, ob die für den erwählten Beruf erforderliche körperliche Befähigung 
vorliegt und ob etwa im Lauf der Lehrlingsausbildung Berufsschädigungen infolge konstitutio- 
neller Minderwertigkeit oder Untauglichkeit für das spezielle Gewerbe ın die Erscheinung getreten 
sind. Schwächliche Lehrlinge sollten entsprechend dem Vorschlag von Alfons Fischer in Wald- 
arbeitsstätten gekräftigt werden, wo ihnen zugleich eine (theoretische und praktische) Ausbildung 
in geeigneten Gewerbearten zuteil werden kann. In Düsseldorf und Strassburg besteht neben 
der ärztlichen Berufsberatung, die in schulärztlichen Sprechstunden von städtischen Schulärzten 
den zur Entlassung kommenden Volksschülern in bezug auf die Berufswahl erteilt wird, neuerd ngs 
ein besonderes Berufsberatungsamt mit Lehrstellennachweis, seine Tätigkeit erstreckt sich nicht 
nur auf die Volksschüler, sondern auch auf die Schüler der mittleren und höheren Schulen und 
auf die Fortbildungsschüler, es leistet eine wirksame Mitarbeit an der Jugendpflege. 
Schon im vorausgehenden ist wiederholt angedeutet, wie wichtig es ist, dass neben der 
Quantität auch die Qualität der Volksreproduktion, auch die Güte des Nachwuchses gesichert 
wird. In dieser Beziebung warten der Rassenhygiene grosse Aufgaben. Sie muss ergänzend an 
die Seite der Sozialpolitik treten und durch Aufklärung es zur guten Sitte, wenn nicht gar zum 
Gesetz bringen, dass die Gattenwahl rassenhygienisch gewissenhaft getroffen wird (Kreuzung mit 
gesundem Stamm) und eine minderwertige gehemmt wird. Auch eine künstliche Beschränkung der
	        
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