Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 243 
  
tierischen und menschlichen Organismus. Daher stammt der Name Physiokratie, und der Haupt- 
satz, durch den die Lehre nachhaltige Bedeutung gewonnen hat, liegt in dem Grundsatz „Laissez fajre, 
laissez passer, le monde va de lui-m&me“. — Dieses System fand in Frankreich bald eine verhältnis- 
mässig grosse Anhängerschaft: Auf dem Boden der Quenay’schen Lehre stand insbesondere der 
zeitweilige Finanzminister Turgot in seinen „Reflections sur la formation et la distribution des 
richesses‘‘, der sich jedoch von den Uebertreibungen des Physiokratismus fernhielt in der Würdigung 
der Arbeitsteilung, des Geldes, des Kapitals und Lohnes, wo er vielfach schon Lehren aufstellte, 
die später erst durch Adam Smith und Ricardo allgemeine Verbreitung ‚erlangt haben. 
5. Adam Smith und die Freihandelslehre. 
Adam Smith war esjedoch erst vergönnt der Freihandelslehre ihre siegreiche Formu- 
lierung zu geben. In seinem weltberühmten Werke „Inquiry into the nature and causes of the 
wealth of nations‘‘ 1773 lässt er zwar Zölle für Industrien, auch Retorsions- und Steuerausgleichs- 
zölle zu und spricht sich gegen die plötz‘iche Aufhebung der Schutzzölle für von Alters her ge- 
schützte, viele Menschen beschäftigende Gewerbe aus, aber alle übrigen Massnahmen des Merkanti- 
lismus erscheinen ihm unberechtigt, weil sie durch die Klassenherrschaft der Interessenten erschlichen 
seien. Die hohen Schutzzölle, die Aus- und Einfuhrverbote, das Kolonialsystem leiteten Kapital und 
Arbeit in falsche Bahnen, verursachten eine Verteuerung der Produkte und schafften ungerechte 
Monopole. Smith’s Hauptvorstellung ist folgende: Die einen Staaten können gewisse Waren billiger 
und besser als andere herstellen; wenn jede Nation das produziert, was sie billiger und besser machen 
kann, haben alle Nationen davon einen Vorteil; wenn jeder Staat dort verkauft, wo er einen höheren 
Preis erzielt und dort einkauft, wo die Ware billiger als in der Heimat ist, kann er nur gewinnen. 
Handele man nicht nach diesem Grundsatz, so verteure man das Leben und vermindere die Kon- 
sumtion. Die Schutzzölle könnten die Gesamtproduktion gar nicht erhöhen, da diese von der vor- 
handenen Kapitalmenge abhänge. Das Interesse der Konsumenten an der grösstmöglichsten Billig- 
keit der Waren solle allein für die Handelspolitik der Völker ausschlaggebend sein. Deshalb beruhe 
das Gedeihen eines Landes auch nicht auf der wirtschaftlichen Abschliessung, sondern auf dem 
freien Austausch der Güter, weil dann jedes Land in die Lage komme, gerade jene Waren zu 
produzieren, die es unter Aufwendung der geringsten Kosten hervorzubringen vermag. 
6. Die Freihandelsschulen a) in England, b) in Frankreich, ce) in Deutschland. 
a) In England wurde der Smith’sche Gedanke, dass die Zollgesetzgebung tiefer Ver- 
änderungen in freihändlerischem Sinne dringend bedürfe, von wirkungsvollen Schriftstellern wie 
Perronet Thompson (Catechism on the cornlaws 1827), Ebenezer Elliot und Miss Martineau lebendig 
erhalten. 1836 bildete sich in London auf Anlass einer Anzahl fortgeschrittener Liberaler, wie Grote, 
Roebuck, Joseph Hume ein Verein zur Bekämpfung der Getreidezölle, eine Anti-corn-law-asso- 
ciation, deren Mitglieder in Wort und Schrift für die freihändlerischen Grundsätze eintraten. Im 
September 1838 wurde die Anti-Corn-Law-League gegründet, die gleiche Tendenzen verfolgte und 
unter der Führung von John Bright und Richard Cobden den Anstoss zu den grossen handels- 
politischen Reformen von 1842—1860 gab. Die Reformbewegung veranlasste wiederum einen festen 
Zusammenschluss der Schule, die neben wissenschaftlichen Vertretern wie Mac Culloch, James Mill, 
Senior Mocanlay u. a. auch zahlreiche bedeutende Tagesschriftsteller zu ihren Anhängern rechnete. 
Die neueren wissenschaftlichen Schriftsteller, wie z.B. Stanley Jevons blieben im allgemeinen 
der orthodoxen Freihandelslehre treu, nur dass sie in Bezug auf Arbeiterschutz und sonstiges sozial- 
politisches Eingreifen des Staates — wie schon früher J. St. Mill — grössere Zugeständnisse 
machten. — Mit dem Jahre 1860 ist bekanntlich England ganz zum Freihandel übergegangen 
und diesem handelspolitischen System bis zum heutigen Tage treu geblieben. 
b)InFrankreich führte J.B. Say die Smith’sche Freihandelslehre ein. Seine Nachfolger, 
wie Rossi, A. Blanqui, L. Faucher, Dunoyer, Bastiat, M. Chevalier, Sainte Beuve, Garnier u.a. warcn 
in ihren Schriften mit vereinten Kräften bemüht, das Freihandelsprinzip auch in der französischen 
Wirtschaftspolitik zur Geltung zu bringen. Die Gewerbefreiheit war allerdings schon seit der Revolu- 
tion eingebürgert, aber der auswärtige Handel blieb trotz aller Bemühungen der Theoretiker durch 
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