Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 245
theorie entschiedene Verfechter in bedeutenden Nationalökonomen, wie L. Brentano, Dietzel, Lotz,
Alfred Weber und Karl Hellferich.
7. Die Freihandelsaera in der Staatspraxis a) Englands, b) Deutschlands, e) Frankreichs, d) Russlands.
a) Inder StaatspraxisdereuropäischenMächte hatdasFreihandels-
prinzipam frühesten n England Anklang gefunden. Dies erklärt sich ohne weiteres daraus,
dass England’s Industrie bereits zur hohen Blüte gelangt war, als die Industrien der anderen europä-
ischen Mächte ihre ersten Gehversuche machten. Zu einer Zeit, da England’s Industrieprodukte
ihren Eroberungszug durch die Welt antraten, und eine fremde Konkurrenz nicht zu fürchten hatten,
erschienen Einfuhrverbote nicht von Nöten. Auch musste es das Bestreben der Regierung sein,
offene Märkte in anderen Ländern zu gewinnen und die eigenen Produktionskosten niedrig zu
halten. In den Produktionskosten der Industrie spielt aber die Lebenshaltung der Arbeiter eine
wichtige Rolle, und deshalb richtete sich die Freihandelsbewegung in England zunächst haupt-
sächlich gegen die Kornzölle. Unter dem ausgezeichneten Staatsmann Sir Robert Peel wurden
gelegentlich der sogenannten „Peel’schen Reformen” die Getreidezölle in den Jahren 1842 und
1845 wesentlich herabgesetzt. Die Differenzialzölle zu Gunsten des westindischen Zuckers wurden
1848, die Navigationsakte 1850 aufgehoben. Von Februar 1849 an wurde für Weizen nur noch eine
statistische Gebühr erhoben, die schliesslich 1869 ebenfalls fortfiel. In der Zeit, als Gladstone die
englischen Finanzen leitete, wurde der Zolltarif für 133 Warengattungen stark ermässigt, und 123
andere Warengattungen wurden für zollfrei erklärt. Die letzten Reste des Schutzzolles wurden
im Wege der Kompensation im Handelsvertrage mit Frankreich vom 23. Februar 1860 und in den
folgenden Verträgen geopfert; auch die früher bestandenen Begünstigungen für einzelne Kolonial-
produkte wurden aufgehoben. Seit jener Zeit enthält der englische Zolltarif nur noch sogenannte
Finanzzölle (auf Kaffee, Thee, Tabak, Bier, Wein, Spirituosen etc.), welche nicht durch ein Schutz-
bedürfnis, sondern durch fiskalische Motive bedingt sind.
b) In Preussen bedeutete das Zollgesetz vom 21. Mai 1816, das neben Finanzzöllen
nur noch mässige Abgaben auf Getreide und Fabrikate enthielt und alle Verbote beseitigte, die
Abkehr vom Merkantilismus. Diese gemässigte schutzzöllnerische Politik setzte Preussen auch in
dem seit 1834 bestehenden preussisch-deutschen Zollverein fort, z. T. mit der Absicht, das hoch-
schutzzöllnerische Oesterreich am Beitritt zu verhindern. Die eigentliche freihändlerische Tarif-
reform wurde durch den preussisch-französischen Handelsvertrag vom 29. März 1862 eingeleitet. In
Deutschland schloss der deutsche Zollverein im Jahre 1865 Tarif- und Meistbegünstigungs-
verträge mit Belgien, England und Italien ab. Nach seiner Neukonstituierung im Jahre 1866 wurde
durch die Tarifvorlagen von 1868 und 1870 die Absicht kundgegeben, eine systematische Herab-
setzung und schliessliche Beseitigung der Zölle herbeizuführen, Es ist bekannt, dass die deutsche
Freihandelspolitik unter der Aera Delbrück in dem Gesetz von 1873 über die Aufhebung der Eisen-
zölle gipfelte. Auch Bismarck trat bis Anfang 1877 für die Ausgestaltung des Zollterifs in der
Richtung reiner Finanzzölle ein. Mit diesem Jahre, welches eine nochmalige Herabsetzung der Eisen-
zölle brachte, erreichten die freihändlerischen Reformen ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende.
ec) In Frankreich kam erst mit Napoleon III. ein überzeugter Freihändler auf den
Thron. Trotz heftiger Opposition im Lande schloss er auf Grund des ihm von der französischen Ver-
fassung gewährten Rechts ohne Mitwirkung der Volksvertretung, den bereits erwähnten Handels-
vertrag mit England von 1860 ab, in welchem sich die fransösische Regierung verpflichtete, die Ein-
fuhrverbote aufzuheben und Schutzzölle einzuführen, deren Höhe 30 %,, und vom 1.Oktober 1864 ab
25% vom Warenwerte nicht übersteigen sollten. Durch das Gesetz vom 19. Mai1866 wurden schliess-
lich zahlreiche Privilegien abgeschafft, welche die französische Handelsmarine durch das Monopol
aufdie Küstenschiffahrt und durch die für Schiffe fremder Flaggen geltenden Zuschläge genoss. Unter
der Republik gewannen dann die protektionistischen Tendenzen wieder mehr und mehr die Oberhand.
d) InRussland begann sich in den 60er Jahren in den gebildeten Kreisen eine freihänd-
lerische Richtung bemerkbar zu machen, die nicht ohne Einfluss auf die Regierung blieb und diese
zu der Tarifreform von 1868 veranlasste. Der fragliche Zolltarif setzte an Stelle des bisherigen starren
Hochschutzzoll- und Probibitivsystems Schutzzölle von mässigerer Höhe. —