Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 247
sozialen Verhältnisse, die Ungleichheit der Löhne, bei der Konkurtenzfähigkeit der Fabrikate eine
beachtenswerte Rolle. Die Schutzzölle sollten hier gleichfalls einen Ausgleich herbeiführen und zu-
gleich die Lebenshaltung der Arbeiter vor den niedrigen Löhnen des Auslandes bewahren. Ueberall
betont List, dass zeitweilige Wertverluste durch Schutzzollverteuerung zurücktreten können, wenn
dafür die produktiven Kräfte der Nation, die Intelligenz und Moralität der Menschen, die Geschick-
lichkeiten und technisch-wirtschaftlichen Kenntnisse, die ökonomisch gesellschaftlichen Gebilde
und Einrichtungen an Kraft, Vollkommenheit und Wirksamkeit wachsen. Mit dieser „Theorie der
Produktionskräfte‘‘, die er in Gegensatz stellt zur Smith’schen „Theorie der Tauschwerte“, hat er,
wie Schmoller (Grundriss Bd. II, S. 606) treffend sagt, „in der Tat den springenden Punkt für die
Erkenntnis des Wirtschafts- und Handelskampfes der Völker gefunden“. Der grösste Teil aller
Schutzzollpolitik des 19. Jahrhunderts hat aus dem List’schen Gedanken seine geistige Fundamen-
tierung erhalten. .
9. Die moderne wissenschaftliche Schutzzolllehre.
Die neueren deutschen Nationalökonomen der schutzzöllne-
rischen Richtung stehen zum grossen Teil mit ihren Grundanschauungen auf dem Boden
der List’schen Lehre und üben eine wissenschaftliche Kritik an den Grundsätzen der modernen
Freihandelsdoktrien: Gegen das Hauptargument der Freihändler „den Konsumentenstandpunkt“,
die Klage, dass Schutzzölle die Waren verteuern, machen sie geltend, dass das Produzenteninteresse
gleichberechtigt, ja, das Dringlichere das Akute sei, und dass die Betonung der momentanen Ver-
teuerung durch Schutzzölle zu ihrer Widerlegung nicht ausreiche. Der Staat müsse immer, ebenso
sehr oder mehr auf die nationale Zukunft, auf die Entwickelung des ganzen, als auf die augenblick-
liche Preis- und Marktlage sehen. Hinsichtlich des anderen Hauptarguments der Freihändler,
nämlich des Vorteils der internationalen Arbeitsteilung, wie ihn Adam Smith entwickelt hat,
betonen sie, dass es im nationalstastlichen Interesse zeitweise mehr liegen kann, die vielfach auch
heute noch fehlende und doch natürlich und politisch angezeigte nationale Arbeitsteilung stärker
zu fördern; letztere sei, je grösser die Staaten werden, desto häufiger noch unvollkommen und doch
die Voraussetzung des inneren festen Zusammenbaltes der Staaten. — Soweit die neuen Schutz-
zöllner in ihren Theorien zu einer blossen Verherrlichung der Autonomie und Autarkie, der abso-
luten wirtschaftlichen Selbständigkeit des einzelnen Staates gelangen, sind ihre Argumente schwach
und anfechtbar: Kein Kulturstaat, und je kleiner er ist, desto weniger kann er heute den Verkehr
mit anderen Staaten entbehren. Nur soweit es sich um unentbehrliche wirtschaftliche Güter, und
um solche Produktionszweige und Produkte handelt, deren kürzere oder längere Entziehung den
Staat tötlich treffen könnten, hat der Gedanke, sich unabhängig vom Auslande zu machen, eine
Berechtigung. — Die Begründung der Schutzzölle mit der Formel, dass alle gewerblichen, land-
wirtschaftlichen und sonstigen wirtschaftlichen Interessen des Inlandes gleichberechtigt seien,
und deshalb gerechterweise gleichen Schutz geniessen müssten (Schutz der nationalen Arbeit), steht
ebenfalls auf keiner festen Grundlage: Sie enthält gewissermassen die Aufhebung des Zweckes selbst,
denn, wenn jeder seine Arbeit oder Ware durch den Zoll gleich viel teurer verkauft, so gewinnt
schliesslich keiner. — Von den amerikanischen Schutzzöllnern wie Patten, Gauton, Carey stammt
die offenbar subjektive und widerspruchsvolle Behauptung, dass der Freihandel für alternde,
stagnierende Staaten sei, während der Schutzzoll die Handelspolitik der aufstrebenden, dynamischen
Industriestaaten charakterisiere; er beseitige bei letzteren die Grundrente und alle Monopole.
(Patten.) Demgegenüber ist zu betonen, dass kaum ein anderes Land seit 1860 solche Grundrenten-
bildung und solche gewerblichen Monopole (Kartelle und Trusts) hervorgebracht hat wie die
hochschutzzöllnerischen Vereinigten Staaten. Diese gewaltigen Monopolbildungen in der Union sind
ja gerade eine der Ursachen, dass sich die europäischen Staaten, die keine in so starken Kartellen und
Trusts organisierte Industrie besitzen, durch Zölle gegen die amerikanische Konkurrenz mit ihren
Schleuderpreisen, ihren riesenhaften Spekulationen und Marktüberführungen schützen müssen.
10. Die wissenschaftliche Kontroverse „‚Industrie- oder Agrarstaat“.
Neuerdings ist in dem theoretischen Streit über die zweckmässigste Handelspolitik die
Frage, ob Schutzzoll, oder Freihandel, mehr in den Hintergrund getreten gegenüber der Kontro-