Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

250 Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 
Gesetz vom 1. April 1910 ist der Tarif von 1892 abgelöst worden. Ein grosser Teil der Yositionen ist 
wiederum nicht unbeträchtlich erhöht worden, doch haben die von den verschiedensten Seiten über- 
mittelten Wünsche und Anträge immerhin den Erfolg gehabt, dass die Sätze einiger der wichtigsten 
Importartikel gegen den ursprünglichen Tarifentwurf etwas gemildert wurden. 
e) In Russland bestand seit dem Tarif von 1866 ein gemässigter Schutzzoll. Aber der 
türkische Krieg steigerte die Finanznot und leitete Russland in die Bahnen einer bedenklichen 
Papiergeldwirtschaft. Da die Zahlungsbilanz sich überdies infolge der teuren Eisenbahnanleihen mit 
ausländischem Kapital sehr verschlechterte, und die Zolleinnahmen zu gering schienen, verfügte 
man 1878, dass alle Zölle in Gold gezahlt werden müssten, eine Massnahme, die mit einer Zollerhö- 
hung von ca. 33% gleichbedeutend war. Hiermit war der erste Schritt zu einer schutzzöllnerischen 
Handelspolitik getan, die dann durch die Zollgesetze vom 11. Juni 1891 und vom 13. Juli 1903 einen 
ausgesprochen hochschutzzöllnerischen Charakter annahm. Unterder altmerkantilistischen Handels- 
und Finanzpolitik Witte’s konnte nichts destoweniger die russische Industrie einen erheblichen 
Aufschwung verzeichnen, vielleicht allerdings unter Schädigung des Bauernstandes. Als grösster 
Getreideproduzent Europas hat Russland einen Agrarschutz bislang nicht nötig gehabt. — 
d) In Oesterreich-Ungarn wurde die schutzzöllnerische Handelspolitik durch den 
Zolltarif vom 27. Juni 1878 eingeleitet. In den folgenden Jahren wurde der Zollschutz für Industrie 
und Landwirtschaft weiter ausgebaut, besonders durch die Tarifreformen von 1885 und 1897, doch 
wurden die Zollsätze durch zahlreiche Handelsverträge ermässigt. Der Zolltarif vom 25. Dezember 
1902 brachte eine grössere Spezialisierung der Industriezölle und eine erhebliche Verschärfung des 
Agrarschutzes durch Einstellung von Minimalsätzen für Getreide. 
Auch die Mehrzahl der anderen kleineren europäischen Staaten verfolgte im letzten Dezennium 
eine mehr oder minder lebhafte schutzzöllnerische Richtung in ihrer Handelspolitik. Von ausser- 
europäischen Industriestaaten besitzen in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika und so- 
dann Japan und Australien hochschutzzöllnerische Tarife. 
8) In den Vereinigten Staaten, die ja neben England und den europäischen 
Mäckten für den deutschen Aussenhandel von besonderer Wichtigkeit geworden sind, hatte schon 
der Morill-Tarif von 1860 die Woll- und Eisenindustrie durch Zölle geschützt. Diese Zölle wurden 
1862 und 1864 nach und nach um ca. 47% erhöht. Einzelne Herabsetzungen bis 1882 waren unerheb- 
lich; im Jahre 1883 machten die Zölle 38% im Durchschnitt aus. In den achtziger Jahren trat ein 
gewisser Rückschlag der amerikanischen Ausfuhr ein. Es entstand eine ausgedehnte Geschäftsflau- 
heit, die lange Zeit nicht weichen wollte; Trusts begannen sich zu bilden; man suchte in hohen Zöllen 
das Mittel rascher industrieller Entwickelung. Der Kampf zwischen den Demokraten, die für mässigen 
Zoll eintraten, und den Republikanern, die Hochschutzzölle verlangten, wurde von nun an zum 
Mittelpunkt der inneren Politik. Es gelang jedoch den Republikanern die Tarifreform des nach langer 
Zeit wieder ersten demokratischen Präsidenten Cleveland (1887) zu verhindern. In der MacKinley-Bill 
von 1890 wussten sie dem extremen Hochschutzzoll den Sieg zu verschaffen. Als dieser Tarif aber mit 
seinem wenig günstigen Erfolge die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschte, die Preise im Inlande 
andauernd stiegen, die angeblich lohnsteigernden Folgen des Schutzzolles ausblieben, und der Miss- 
mut über das Treiben der Trusts wuchs, siegten wieder dieDemokraten. Aber sie konnten nur eine 
mässige Milderung des Tarifs (Wilson-Tarif von 1897) durchsetzen. Die Republikaner kehrten unter 
Mac Kinley in ihre Aemter zurück und setzten im Dingley-Tarif (1896) die Rückkehr zum Hoch- 
schutzzoll von 1890 durch. Die Union suchte ihre Meistbegünstigungen in den Staaten mit mässigen 
Tarifen fest zu halten, ohne jedoch selbst in ihren Handelsabkommen irgend nennenswerte Zoll- 
ermässigungen auf die Tarifsätze zu konzedieren. Am 5. August 1909 ist ein neuer Zolltarif (die 
Payne-Aldrich Bill) angenommen worden, der durch weitere Erhöhung der Zollsätze die Ausfuhr 
nach den Vereinigten Staaten noch mehr als bisher erschwert hat. Die insbesondere von dendeutschen 
Interessenten gehegten Befürchtungen über den Inhalt des neuen Zolltarifs fanden nach dessen 
Bekanntwerden ihre volle Bestätigung. Der Tarif verfolgt den Zweck, einmal die amerikanische 
Industrie noch mehr zu kräftigen und ausserdem dem Staat mehr Einnahmequellen zuzuführen. 
Er ermässigt oder beseitigt deshalb im allzemeinen die Zölle auf Rohmaterialien und reduziert im
	        
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