2354 Bernhard Harnis. Weltwirtschaft und äussere Wirtschaftspolitik.
80 Millionen sein. Seit geraumer Zeit vermehren wir uns jährlich um 800,900 000 Menschen. Auf
einen qkm kamen im Anfange des 19. Jahrhunderts 45, heute 120 Einwohner. Wie ist es möglich
gewesen, diese gewaltige Bevölkerung innerhalb unserer Grenzen mit Arbeit und Nahrung zu ver-
sorgn?® Einzig und allein durch unsere industrielle Entwicklung.
Ein Ackerbaustaat muss seine Bevölkerung immer den Nahrungsmitteln anpassen, die er auf
eigenem Boden gewinnt. Die Produktivität eines gegebenen Stück Landes ist selbst durch den
grössten Kapital- und Arbeitsaufwand nicht beliebig vermehrbar, sondern an bestimmte Grenzen
gebunden (Gesetz des abnehmenden Bodenertrages). Da nun aber die Bevölkerung immer die
Tendenz hat, sich über diesen Spielraum hinaus zu vermehren, so müssen Ventile geschaffen werden.
Eines dieser Ventile öffnet sich regelmässig von selbst; es ist das „Gesetz des natürlichen Regula-
tivs“: Hungersnöte und Epidemien sorgen dafür, dass die Bevölkerung immer wieder auf den ihr
von der Natur gegebenen Nahrungsspielraum zurückgedrängt wird. Das andere Ventil ist die
Auswanderung. Wie es schon in der Bibel von Abraham und Lott heisst: „Und das Land
mochte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten, denn ihre Habe war gross und konnten
nicht beieinander wohnen“. Das grosse Wandern der Menschheit, das wir seit Jahrtausenden
sehen, und das schliesslich zur Besiedlung der Erde geführt hat: es ist die Folge davon, dass ein
Stück Land in seiner Ertragsfähigkeit nicht beliebig gesteigert werden kann. Auch in Deutschland
reden die Auswandererziffern eine ernste Sprache. In den Jahren 1821—90 wanderten allein nach
den Vereinigten Staaten annähernd 5 Millionen Deutsche aus. Unsere Auswandererziffer erreichte
zeitweise eine stattliche Höhe. Im Jahre 1880 verloren wir durch Auswanderung 117 000, im Jahre
1881 220 000 Landsleute, gleich 5% der damaligen Bevölkerung.
Die industrielle Entwicklung hat diese enorme Auswande-
rungzum Stillstand gebracht. Unser Wanderungsverlust im Jahre 1910 belief sich
auf 25500 Menschen (0,7%). Die Einwanderung war in derselben Zeit grösser, wenngleich es nicht
die besten Elemente sind, die aus dem slavischen Osten zu uns herüberkommen. Immerhin ändert
dies nichts an der Tatsache, dass wir heute ein Einwanderungsland sind.
Weshalb hängt dies mit der industriellen Entwicklung zusammen ? Einfach deshalb, weil
die Stoffverarbeitung auf demselben Boden mehr Menschen ernähren
kann alsdieUrproduktion; unter zwei Voraussetzungen: 1. müssen über die im Inlande
produzierten Rohstoffe hinaus solche aus dem Auslande bezogen werden können; 2. muss für die
produzierten Güter Absatz vorhanden sein. Unter diesen beiden Voraussetzungen lässt sich die
industrielle Tätigkeit beliebig steigern. Und in dem Masse, als diesgeschieht, wird im Inlande Arbeits-
gelegenheit geschaffen und damit die Möglichkeit, den Bevölkerungszuwachs im Lande zu behalten.
Bevor dies näher erörtert wird, soll kurz die Frage aufgeworfen werden, ob es für Deutschland
überhaupt erwünscht ist, innerhalb seiner Grenzen eine so grosse Bevölkerung zu haben. Neuerdi
macht sich auch bei uns Propaganda für den Neumalthusianismus geltend, der sich letzten Endes
die Aufgabe stellt, auf eine Beschränkung der Kinderzahl hinzuwirken. Solches Beginnen er-
scheint mir vom deutschen Standpunkt als frevelhaft. Zur Begründung nur eines: Deutschland
gilt heute mit Recht als ein Staat, der sich wirtschaftlich ungewöhnlich günstiger geographischer
Lage erfreut. Im Herzen Europas liegend, fast überall auf Landgrenzen stossend, aber doch des
Zugangs zum Meere nicht entratend, wird Deutschland bei zunehmendem internationalen Verkehr
immer mehr Durchgangsgebiet für die Beziehungen der Völker Europas, wovon es selbstverständlich
profitiert. Es sei nur hingewiesen auf den grossen Verkehr Westeuropas, vornehmlich Englands,
via Sibirien und Ostasien, der noch intensiver werden wird, wenn wir erst die Bahnen nach
Indien und dem Persischen Golf haben. Dieser Durchgangsverkehr hat unsere Volks-
wirtschaft mittelbar und unmittelbar sehr erhebliche Werte zugeführt. Anderseits brauchen wir
nur einen Blick auf unsere Geschichte zu werfen, um zu erkennen, dass diese unsere exponierte
Lage von jeher mit grossen Gefahren verbunden gewesen ist, indem wir unter dem Mangel aus-
reichender Grenzwacht zeitweise schwer gelitten haben und überdies unser Boden im Laufe der
Jahrhunderte oftmals den Tummelplatz für die Kämpfe anderer Völker hat abgeben müssen.
Diese Gefahr ist heute eher grösser als kleiner geworden und wenn wir uns trotzdem behauptet
haben, so verdanken wir dies unserer politisch-militärischen Macht, die ihrerseits aber mit abhängig