Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

256 Bernhard Harms, Weltwirtschaft und äussere Wirtschaftspolitik. 
Sorge der Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität gilt. Die 
durch das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages bedingte Grenze der Produktivität ist in 
Deutschland noch nicht annähernd erreicht, sodass wir hoffen dürfen, einen erheblichen Teil 
dieses Imports nach und nach im Inlande decken zu können. In Sonderheit wird durch gross- 
zügige Kolonisation, d. h. durch Schaffung von Bauerngütern im Osten der Preussischen Monarchie 
sowie durch Kultivierung unseres Moorbodens noch ausserordentlich viel getan werden können. 
Pflege der deutschen Landwirtschaft bleibt aber nicht nur aus Gründen der Ernährung für 
alle Zeit eine unserer hauptsächlichsten Aufgaben, sondern auch aus anderen Gründen. Eine starke 
landwirtschaftliche Bevölkerung sichert die fortdauernde Regeneration der Gesamtbevölkerung 
in physischer und moralischer Beziehung. Hierzu kommt, dasseine Industrie mitüberwiegen- 
dem Weltmarkt weniger gut fundiert und internationalen Wirtschaftskrisen besonders stark 
ausgesetzt ist. Eine kaufkräftige Landwirtschaft muss der Industrie den Rückhalt geben. Sehr 
erheblich ist ferner, dass die Entwicklungstendenz in der landwirtschaftlichen Betriebsform (im 
Gegensatz zur Industrie) zum Klein- und Mittelbetrieb drängt, der sich gegenüber dem Grossbe- 
trieb als durchaus konkurrenzfähig zeigt. Die Marxistische Konzentrationstheorie trifft, wie heute 
allgemein feststeht, für die Landwirtschaft nicht zu. Die soziale Differenzierung 
inder Industrie zunehmende Abhängigkeit)erhältdemnach durch 
diejenigein der Landwirtschafteinstarkesundsehrerwünschtes 
Gegengewicht. Eine Tatsache, die den Soziologen Schäffle bekanntlich zu der Ausserung 
veranlasst hat: Es werde an den Schädeln der Bauern der Sozialismus zerschellen. Und insofern 
ist es auch ganz richtig, dass unsere Zukunft, oder wenigstens ein Stück davon, auf dem 
Lande liegt. 
Dies alles ist demnach in seiner ganzen Tragweite anzuerkennen. Trotzdem dürfen wir uns 
aber keinen Illusionen hingeben, denn dass die deutsche Landwirtschaft jemals in der Lage wäre, 
unseren heutigen und künftigen Bedarf an Lebensmitteln (im weitesten Sinne) zu normalen 
Preise selbst zu erzeugen, ist Utopie. Es mag dahingestellt bleiben, wieweit wir unseren Bedarf 
an Vieh und tierischen Produkten (Eier, Fette, Milch, Butter etc.) mit der Zeit im eigenen Lande 
decken können. Doch gerade wenn dies, wie zu hoffen ist, möglich sein wird, vergrössert sich 
unsere Abhängigkeit vom Ausland im Hinblick auf Getreide und Futtermittel um so mehr. Was 
wir zur Pflege und Förderung der deutschen Landwirtschaft auch tun, es bleibt dabei, dass wir 
in steigendem Masse auf das Ausland angewiesen sein werden. Hierzu kommt noch, dass wir auch 
in bezug auf mancherlei Genussmittel, die wir ungern entbehren (Kaffee, Kakao, Tee, Tabak, 
Südfrüchte) dem Auslande mit annähernd einer halben Milliarde tributpflichtig geworden sind. 
Da entsteht nun die Frage: Womit bezahlen wir diese Güter? Wir besitzen kein nennens- 
wertes Naturprodukt, das wir als Gegenwert hinausgeben könnten. Es bleibt uns deshalb nichts 
anderes übrig, als Industrieprodukte zu exportieren. Mit den Erzeugnissen unseres Gewerbe- 
fleisses müssen wir das bezahlen, was wir an Nahrungsmitteln aus dem Auslande erbalten. Hierbei 
ist ausserdem noch zu beachten, dass wir in Deutschland auch gezwungen sind, einen grossen Posten 
von Rohmaterialien zu beziehen — selbst für den blossen Inlandsbedarf (Baumwolle, Jute, Kupfer, 
Erze, Holz, Kautschuk, Petroleum etc.) — den wir ebenfalls mit Industrieerzeugnissen zu bezahlen 
aben. 
Endlich ist noch zu bedenken, dass auch abgesehen von diesen Notwendigkeiten die. Förde- 
rung industrieller Tätigkeit sich dringend empfiehlt. Die Betriebskosten des modernen Staates 
gehen ständig in die Höhe. Dies bedingt nicht nur der Aufwand für Heer und Marine, sondern in 
grösserem Umfange noch die im Staat unserer Tage immer mehr sich durchsetzende Kultur- 
idee, willsagen: Der Teil des Budgets, der sich auf die soziale und kulturelle Tätigkeit des Staates 
und der Gemeinden bezieht, schnellt die Gesamtausgaben je länger desto mehr in rascher Steigerung 
empor. An sich zweifellos erfreulich und erwünscht. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Ein- 
zelwirtschaften der Steuersubjekte auch imstande sind, jene vergrösserten Betriebskosten der 
Gemeinwirtschaften aufzubringen. Die Durchführung der Kulturidee im Staat hat den Wohl- 
stand seiner Bürger zur Voraussetzung. Dieser aber ist im hohen Grade ab- 
hängig von der Struktur des Wirtschaftslebens. Ein blosses Ackerbau-
	        
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