290 Bernhard IHuldermann, Seeschiffahrt.
der Völker, Obwohl es heute nicht mehr wie früher zutreffend ist, dass der Handel die Wege geht,
auf denen ihm die Flagge voraufgegangen ist, ist doch nicht zu bezweifeln, dass die regelmässige
Beförderungsmöglichkeit, die die deutsche Flagge dem deutschen Überseehandel geboten hat, auf
ihn stark anregend gewirkt hat. Rückschliessend kann man das auch aus den grossen Opfern ent-
nehmen, die unsere Reedereien in den Jahren ihrer Entwicklung bringen mussten — kaum eine der
grösseren deutschen Reedereien ist in ihrer Jugend ohne Kapitalszusammenlegung davongekommen.
Aber auch direkt schafft die Reederei für das Nationaleinkommen neue Werte, indem sie nämlich über
den Anteil des eigenen Volkes am Weltverkehr hinaus an diesem teilnimmt. Nicht alle Länder
sind in der Lage, die Anforderungen zu erfüllen, die der Schiffahrtsbetrieb auf der höchsten Stufe
seiner jeweiligen Entwicklung stellt; es gehört dazu ein hoher Stand der Technik, Disziplin und
Kultur. Darum sind immer einige Länder führend in der Schiffahrt gewesen, an ihrem Beispiel
haben sich andere gebildet. Das gilt auch von der deutschen Schiffahrt, deren Vorbild England
war, das bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hinein in der Vermittlung des deutschen
Seeverkehrs eine massgebende Rolle spielte. Das hat sich seither vollständig geändert; was die
englische Flagge im deutschen Seeverkehr heute noch deckt, ist der Verkehr mit England selbst,
ausserdem ein Teil der Einfuhr von Massengütern von Übersee, soweitsiemitsogenannten „Tramp-
dampfern“ erfolgt.
Zur Erläuterung dieses Ausdrucks ist zu bemerken, dass der Warenverkehr über See, soweit
es ein einigermassen regelmässiger Verkehr ist, durch die Schiffahrtslin ien besorgt wird, die
ihre Schiffe in regelmässigen Zeiträumen abfahren lassen. Soweit er aber infolge von Ernten oder
anderen Verhältnissen (z. B. Schluss der Ostsee durch Eis im Winter) sich auf begrenzte Zeiträume
zusammendrängt oder nur einseitig gerichtet ist (die Kohlenausfuhr von England; die Schiffe,
die sie befördern, müssen am Bestimmungsorte oder anderswo sich eine Rückfracht suchen) wird
er von Dampfern besorgt, die nicht regelmässig, sondern „in wilder Fahrt“ laufen (eng-
lisch „tramp steamers“). In diesem letzteren Gewerbe hat England eine vollkommene Vorherr-
schaft, die ihm nur bestritten werden könnte, wenn seine grosse Kohlenausfuhr, die sogar die vor-
nehmste Grundlage der Existenz für die Trampschiffahrt aller Flaggen bildet, aufhören würde
oder auch diese zum überwiegenden Teile in die Hände regelmässiger Linien überginge. Beides
steht vorläufig nicht in Aussicht. Trotzdem hat sich die Stellung von regelmässigen Linien und
Trampschiffahrt zu einander in England doch so verschoben, dass, während man früher etwa zwei
Drittel der englischen Handelsflotte als zur Trampschiffahrt gehörig ansah, dieser Teil heute auf
erheblich unter die Hälfte heruntergegangen ist.
In der freien Konkurrenz, die in der „wilden Fahrt‘ herrscht, hat der Trampdampfer den
Segler verdrängt, und dem ersteren wieder macht in dem Transport von Massengütern der Linien-
dampfer wachsende Konkurrenz. Er ist häufig technisch leistungsfähiger, unter Umständen in der
Assekuranzprämie billiger, deshalb dem Verlader lieber, dem er auch Gelegenheit zur Beförderung
kleinerer Mengen gibt, während der Trampdampfer nur für grössere Mengen, volle Ladungen, in
Betracht kommt. Völlig und anscheinend dauernd in den Hintergrund getreten ist die grosse
Segelschiffahrt in der Hauptsache dadurch, dass die technische Entwicklung der Dampf-
schiffahrt das durchschnittliche Niveau der Frachtsätze so heruntergedrückt hat, dass die Segel-
schiffe eine auskömmliche Rentabilität nur in Zeiten hoher Frachten noch finden. Kleine Segler
finden in der letzten Zeit in zunehmender Menge lohnende Beschäftigung in der nordeuropäischen
Küstenfahrt, aber zumeist unter skandinavischer, holländischer oder russischer Flagge, weil unter
dieser infolge niedrigerer Löhne und fehlender sozialpolitischer Lasten die Betriebskosten geringer
sind als unter deutscher oder englischer Flagge. Diese Differenz in den Betriebskosten ist auch der
Grund dafür, dass Norwegen zahlreiche von englischen Reedern wegen ungenügender Rentabilität
verkaufte Segelschiffe aufgekauft hat. Auch in der Dampfschiffahrt macht sich übrigens der Unter-
schied in den Betriebskosten fühlbar. (Vergl. Huldermann, Sceschiffahrt und Welthandel, S. 20).
Diese Entwicklung in der grossen sowohl wie der kleinen Segelschiffahrt ist insofern bedauerlich,
als die Erhaltung der Segelschiffahrt in einem gewissen Umfange im Interesse der guten Ausbildung
des seemännischen Personals, namentlich des Offizierspersonals, sehr-erwünscht wäre. Einen Ersatz
für den Ausfall an Segelschiffen bemüht man sich durch die Einstellung von Schulschiffen zu
schaffen, auf denen künftige Offiziere wie auch neuerdings Matrosen ausgebildet werden.