Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

312. 
Bernhard Harms, Handel. 
  
  
Was heisst überhaupt produktive oder unproduktive Arbeit leisten ? Der allgemeine Sprach- 
gebrauch sowohl wie die wissenschaftliche Terminologie geben darauf keine klare, unzweideutige 
Antwort. Nehmen wir das Wort produktiv wörtlich, so ist es auf die Tätigkeit des Menschen über- 
haupt nicht anwendbar, denn Güter hervorzubringen ist diesem versagt. Auch bei der 
sog. materiellen Produktion, die man gewöhnlich im Auge hat, wenn von „produktiver‘ Arbeit 
die Rede ist, ist das, was hervorgebracht wird, nicht der Stoff. „Die gesamte Arbeit aller mensch- 
lichen Wesen in der Welt ist nicht imstande, den allergeringsten Teil eines Stoffes hervorzubringen.“ 
(John Stuart Mill). „Was wir hervorbringen oder hervorzubringen wünschen, ist immer nur eine 
Nützlichkeit. Arbeit schafft keine Gegenstände, sondern Nützlichkeiten.‘“ (Say) Wenn wir diesen 
sehr richtigen Gedanken etwas schärfer formulieren wollen, müssen wir sagen: diejenige Arbeit 
ist produktiv, die materiellen Gegenständen Nützlichkeit (Brauchbarkeit) gibt. Dieser als un- 
mittelbar produktiv zu bezeichnenden Arbeit wäre dann die mittelbar produktive gegenüber zu 
stellen, die nicht unmittelbar auf die Nutzbarmachung materieller Gegenstände gerichtet ist, 
sondern diese nur indirekt fördert und beeinflusst. Als unproduktive Arbeit wäre dann jene zu be- 
zeichnen, die weder mittelbar noch unmittelbar auf die Nutzbarmachung materieller Gegenstände 
einen Einfluss übt. 
Dass von diesem Standpunkt landwirtschaftliche und gewerbliche Arbeit (i. e. S.) produktiv 
ist, bedarf keiner Erörterung. Wie aber steht es mit dem Handel? Der Kürze halber ein Beispiel: 
Der auf der Malayischen Halbinsel gewonnene Kautschuk ist auf der Plantage völlig ohne Nützlich- 
keit, da er an Ort und Stelle niemandes Bedürfnisse befriedigt. Gelangt er aber durch Vermittlung 
des Kaufmanns auf den europäischen Kontinent, so sind ihm dadurch Nützlichkeiten ausgelöst 
worden, die zwar in letzter Linie auf den Pflanzer zurückzuführen sind, ohne den Kaufmann (und 
den Reeder) aber nicht hätten in die Erscheinung treten können. Die an sich mögliche Nützlich- 
keit eines Gegenstandes kommt erst zur Geltung, wenn sie dem Menschen dienstbar gemacht wird, 
ein Vorgang, der ohne den Handel (und das ihm verwandte Transportgewerbe) vielfach überhaupt 
nicht denkbar ist. Wir sehen: es braucht die Beeinflussung der Nützlichkeit eines Gegenstandes 
nicht immer in formverändernder Tätigkeit zu bestehen, sondern ebenso wichtig ist, dass er über- 
haupt zugängig gemacht wird. Erst wenn die Güter dort sind, wo sie konsumiert werden, haben 
sie konkreten Gebrauchswert. Diese Funktion des Schiebens der Güter an den Ort der Nachfrage, 
den Ausgleich der Disproportion zwischen Angebot und Nachfrage bewirkt der Handel, der des- 
halb in eminentem Sinne als produktiv bezeichnet werden muss. Mit Recht weist Lexis darauf 
hin, dass niemand dem Techniker, der die Förderung der Steinkohlen aus der Tiefe an die Ober- 
fläche leitet, die produktive Tätigkeit absprechen werde. „Aber nicht minder produktiv ist auch 
die Tätigkeit des Kaufmanns, der eine Fabrik ausfindig macht, in der die Kohlen nützliche Ver- 
wendung finden und ihre Versendung dorthin veranlasst.‘ Da durch diese Tätigkeit des Handels 
die Güter vielfach erst einen Gebrauchswert und damit einen Tauschwert erhalten oder dieser 
mindestens erhöht wird, rechtfertigt sich selbstverständlich auch ein Anteil an dieser \ertsteige- 
rung für den Händler. 
Für den Produzenten ist der Handel in doppelter Beziehung von Bedeutung. Einmal be- 
schafft er ihm die Rohmaterialien und zum anderen setzt er das fertige Produkt ab. Innerhalb 
gewisser Grenzen liegt freilich auch die Möglichkeit vor, dass der Produzent in beiden Fällen den 
Handel ausschliesst und sich des direkten Verkehrs bedient. Grosse Unternehmungen z. B. be- 
ziehen ihre Kohlen in der Regel unmittelbar von der Zeche, wie anderseits auch dieschwere Industrie 
ihre Erzeugnisse (Halbzeug etc.) nicht selten direkt der weiterverarbeitenden Industrie liefert. 
Aber schon hier ergeben sich oft Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn es sich um den Verkehr 
mit dem Ausland handelt; Jute, Baumwolle, Kupfererze, Öle, Tabak und viele andere Welthandel-- 
artikel lassen sich ohne Inanspruchnahme des Handels und der erst vom Handel organisierten 
Produktenbörse zumeist überhaupt nicht beziehen. Und noch wichtiger erweist sich der Handel 
beim Absatz der fertigen Erzeugnisse. Der Fabrikant produziert in der Regel nur einen Gegenstand 
oder doch verwandte Gegenstände, für die sich in den meisten Orten ein eigenes Detailgeschäft 
als unrentabel erweisen würde. Der Detaillist, der in seinem Laden die Erzeugnisse einer ganzen 
Anzahl von Fabrikanten feilbietet, gibt ihm erst die Möglichkeit des Absatzes über das ganze Land. 
Nur in grossen Städten ist den Fabrikanten die Aufmachung einer eigenen Verkaufsstelle möglich,
	        
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