Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Martin Weigert, Die Privatbeamtenfrage. 393 
Hier findet man neben niedrigen Gehältern übermässig lange Arbeitszeiten, Überstunden, aus- 
gedehnte Sonntagsarbeit, schlechte Beschaffenheit der Geschäftsräume, rigorose Konkurrenz- 
klauseln, kurze Kündigungsfristen und andere zu Ungunsten der Angestellten lautenden Bedingun- 
gen des Anstellungsvertrages. Diese Gestaltung der Verhältnisse hat trotz des mangelnden poli- 
tischen und Klassengegensatzes zwischen Angestellten und Arbeitgebern, trotz der vielen sonstigen 
sozialen Berührungspunkte beider Parteien das Entstehen einer sozialen Frage für diese Berufs- 
kreise verursacht. 
6. Die Träger dieser Bewegung sind die in kurzer Zeit zu einflussreichen und grossen 
Organisationen angewachsenen Berufsvereine geworden, deren bedeutungsvollste Aufgabe 
heute die Hebung der wirtschaftlichen Lage und der rechtlichen und sozialen Stellung ihrer Mit- 
glieder ist. Die Zahl dieser Berufsvereine ist sehr gross. Die meisten haben sich zu machtvollen 
interlokalen Zentralverbänden zusammengeschlossen. So zählt Kulemann (Die „Berufsvereine“ 
Abt. I) für die technischen Berufe 17 Zentralverbände, von denen beispielsweise der „Bund deutscher 
Architekten‘ 21 Ortsgruppen, der „Deutsche Werkmeisterverband‘‘ 826 Bezirksvereine besitzt. 
Für die chemischen Berufe werden 4 grosse Zentralorganisationen angegeben, von denen z.B. der 
„Verein deutscher Chemiker“ allein 19 Bezirksvereine aufwe'st. Die kaufmännischen Angestellten 
verfügen über einige 20 das ganze Deutsche Reich umfassende Berufs- und Fachorganisationen 
mit zahllosen Gau-, Bezirks- und Ortsvereinen. Endlich besitzen auch die Bürobeamten und land- 
wirtschaftlichen Privatangestellten mehr als 10 interlokal organisierte Interessenvertretungen mit 
vielen Untervereinen. 
Obgleich bis vor kurzem ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Berufsarten und 
ihren Organisationen fehlte, obgleich die Verbände der Handlungsgehilfen auf Vorschriften im 
Handelsgesetzbuche, die Verbände der Werkmeister und Techniker auf Verbesserungen der Ge- 
werbeordnung, die Güterbeamten, Bergbeamten etc. auf Reform derLandesgesetzgebung hinarbeiten, 
bewegen sich doch die Bestrebungen aller dieser Kreise in der gleichen Richtung. In der Regel 
hat das Vorgehen einer Gruppe die anderen zur Nachfolge auf dem gleichen Wege angespornt, 
sodass bei den meisten Forderungen ein gemeinsamer Zug unverkennbar ist. Die wichtige Frage 
der staatlichen Pensions- und Hinterbliebenenversicherung endlich hat es sogar vermocht, den 
Kreis der Hunderttausende von Gehilfen und Privatangestellten aller Gruppen zu einer einheit- 
lichen tatkräftigen Aktion zusammenzuschliessen und ein gemeinsames offizielles Organ in dem 
„Hauptausschusse“ zu schaffen. Damit ist aber der erste Schritt zu einer Standesbewegung der 
Privatbeamtenschaft und vielleicht auch zu einer Privatbeamtenpolitik des Reiches getan. — 
Ausser der Pens ons- und Hinterbliebenenversicherung betreffen die gemeinsamen Ziele 
der Privatbeamtenbewegung eine einheitliche Reform des Rechts über den Dienstvertrag, der 
sozialpolitischen Schutzgesetze und einiger öffentlichrechtlicher Bestimmungen. — 
7. Als Mindestbedingungen des Dienstvertrages werden gefordert: 1. Barzahlung 
des Gehalts und Verbot des Truck-Systems in jeglicher Form. Erhöhte Verzinsung von Lohn- 
rückständen. 2. Verbot der Zurückbehaltung des Gehalts oder der Aufrechnung mit Darlehen, 
Schadensersatzansprüchen und ähnlichen Forderungen; 3. Beschränkung der Einbehaltung des 
Arbeitsverdienstes zu Kautionszwecken. Sicherstellung der Dienstkautionen im Konkurse des 
Arbeitgebers. 4. Erhöhte Sicherung des Arbeitseinkommens gegen Pfändung. 5. Fortzahlung des 
Gehalts bei unverschuldeter Verhinderung an der Dienstleistung während nicht erheblich langer 
Zeit. Fortzahlung des Gehalts in Krankheitsfällen auf die Dauer von 6 Wochen ohne Anrechnung 
von Kassenbezügen. Fortzahlung des Gehalts bei militärischen Übungen. 6. Gleichheit der 
Kündigungsbedingungen für beide Parteien. 7. Festsetzung einer Mindestkündigungsfrist von 
einem Monat zum Monatsschluss, wie sie im H.G.B. oder in der R.G.O. besteht, oder von 6 Wochen 
zum Vierteljahresschluss, wie sie vielfach von Verbänden angestrebt wird. 8. Beschränkung der 
Kündigungsbefugnis während einer Krankheit oder militärischen Dienstleistung. 9. Festsetzung 
der wichtigsten Gründe, die zur Auflösung des Dienstverhältnisses ohne Einhaltung der vereinbarten 
oder gesetzlichen Kündigungsfrist berechtigen. 10. Verbot oder erheblich verschärfte Bestim- 
mungen gegen die Aufnahme von Konkurrenzklauseln in den Dienstvertrag. 11. Recht des Ange- 
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