Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

358 Hugo Thiel, Die Bedeutung der Landwirtschaft. 
teilung geschrieben und unter dem Titel Industriestaat oder Agrarstaat im Jahrgang 1902 des 
Mentzel u. Lengerke‘schen landwirtschaftlichen Kalenders noch einmal veröffentlicht hat, kommt 
nach eingehenden Erwägungen zu dem Schlussergebnis, dass in Deutschland, trotzdem sich die 
landwirtschaftliche Bevölkerung ständig gegenüber dem übrigen Teile der Bevölkerung vermindert. 
und schon jetzt in die Minorität gedrängt ist, der Gesamtwert der landwirtschaftlichen Produktion, 
wozu er auch die forstwirtschaftliche rechnet, dem Gesamtwert der industriellen Produktion mit 
ca. 8 Milliarden Mark noch gleichsteht, wie er denn auch für die Landwirtschaft berechnet, dass sie 
an dem zu ca. 150 Milliarden geschätzten Gesamtnationalvermögen zur Hälfte beteiligt sei. Mit 
diesen Zahlen, die auch jetzt noch trotz der starken Steigerung der beiderseitigen 
absoluten Zahlen für das Verhältnis der betreffenden Werte zueinander zutreffend sein 
dürften, ist aber die Bedeutung der Landwirtschaft im Wirtschaftsleben nicht erschöpft, 
selbst wenn sie ungünstiger für die Landwirtschaft ständen, bliebe die grundlegende Wichtigkeit 
des landwirtschaftlichen Betriebes für die nationale Existenz ungeschwächt bestehen. Denn die 
Sicherheit der Selbständigkeit einer Nation beruht zu einem grossen Teile darauf, dass ihre Land- 
wirtschaft einen möglichst grossen Anteil der für die Gesamtbevölkerung erforderlichen Nahrungs- 
mittel selbst produziert und damit die Unabhängigkeit vom Auslande gewährleistet. In Deutsch- 
land ist die Lage augenblicklich so, dass es nur einer verhältnismässig geringen Steigerung der 
Ernte der Hauptfrüchte pro Hekt. bedürfte. um das ganze Inlandsbedürfnis nicht nur an Nahrungs- 
mitteln sondern auch für die vielfachen anderen Verwendungszwecke landwirtschaftlicher Erzeug- 
nisse zu decken, und auch bei steigender Bevölkerung könnte dies Ziel noch längere Jahre erreicht 
werden. wenn der gesamte Grund und Boden entsprechend intensiv benutzt würde. Man kann 
auch nicht einwenden, dass solch eine intensive Benutzung nur mit bedeutend erhöhten Betriebs- 
kosten möglich scin werde und dass das Gesetz des sinkenden Reinertrags in Wirksamksit treten 
und den ganzen Nutzen aufzehren werde. Abgesehen davon, dass der politische Wert der Unabhängig- 
keit vom Auslande die aufzuwendenden Mehrkosten wenigstens teilweise kompensieren könnte, 
liegt auch die Wirksamkeit des genannten Gesetzes noch in weiter Ferne solange wie wir in der 
Lage sind, Mehrerträge in bedeutendem Masse nicht durch Erhöhung des Betriebsaufwands son- 
dern nur durch eine rationeller« Kultur d. h. durch eine bessere Ausnutzung der Naturkräfte herbei- 
zuführen. Und selbst wenn wir für besseres Saatgut und stärkere Anwendung von künstlichem 
Dünger sowie für intensivere Unkrautvertileung vermehrte Mittel aufwenden, so werden diese 
Mehraufwendungen noch weithin den Reinertrag nur günstig beeinflussen, da alle übrigen Wirt- 
schaftsausgaben für Verzinsung des Anlagckapitals und Inventars, Bestellung und Ernte ziemlich 
dieselben bleiben bei gutem wie bei schlechten Ernten. Wenn z. B. in den höchst intensiv betrie- 
benen Zuckerrübenwirtschaften der Provinz Sachsen die Ausgaben für künstlichen Dünger nur ca. 
7% der Gesamtausgaben betragen so wird man nicht behaupten können, dass die vermehrte Anwen- 
dung dieses Hauptförderungsmittels besserer Ernten in den Wirtschaften — und das dürfte die Mehr- 
zahl sein —, in welchen hiervon jetzt nur ein sehr geringer oder ga‘ keinGebrauch gemacht wird, auf 
den Reinertrag einen ungünstigen Einfluss ausüben werde. Rechnet man noch hinzu, dass die Sicher- 
heit der Ernten mit der intensiven Kultur steigt, so liegt das allgemeine Interesse auf der Hand, 
welches der Staat an der Hebung des landwirtschaftlichen Betriebes haben muss. Die Schwankungen 
der Werte der Gesamternten belaufen sich jetzt in Deu‘sc' land auf Milliarden, ein Mehrertrag 
pro Hekt. von nur I M. macht im ganzen schon ca. 1, Millisrde aus und erhöht entsprechend die 
Kaufkraft der landw. Bevölkerung, was in der Hauptsache der Industrie zugute kommt, man 
sollte also annehmen dass für jede Regierung keine dringlichere Aufgabe vorliege als mit allen 
Mitteln auf die Förderung des landw. Betriebes einzuwirken. Das ist nun eigentümlicherweise 
nicht der Fall gewesen, man hat im Gegenteil die Landwirtschaft lange Jahre sich selbst über- 
lassen und die staatliche Fürsorge wesentlich dem Handel und der Industrie zugewandt. Als Zeug- 
nis hierfür kann man u.a. auch die Preussische Nationalhymne anführen, in welcher die Hebung 
von Handel und Wissenschaft dem Regenten als Ruhm angerechnet wird. von der Land- 
wirtschaft aber gar nicht die Rede ist, obgleich sie einer besonderen Förderung viel 
mehr bedarf, da sie von dem Stachel der Konkurrenz längst nicht in dem Masse berührt 
wird, wie die Industrie ; und daher viel eher geneigt ist auf einem bequemeren Be-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.