Conrad Haussmann, Der Linksliberalismus, 39
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eine Minderheit verwandelt. Die Meinungs- und Temp t zwischen Kaiser
Wilhelm II. und Bismarck führten zum Bruch und zur Entlassung Bismarcks am 20. März 1890.
Die Stellung des zweiten Kanzlers Caprivi war durch die politischen Verhältnisse und den Gegen-
satz, den Fürst Bismarck scharf herauskehrte und der in Verbindung mit einer Abschwächung der
Schutzzollpolitik eine agressive Strömung in konservative und nationalliberale Kreisen erzeugte
politisch so beengt, dass er eine neue Richtung nicht mit Entschiedenheit verfolgen konnte.
er die taktische Frage, inwieweit unter solchen Umständen’ und solcher Unsicherheit die
freisinnige Partei die Regierung des Reichskanzlers unterstützen könne, entstanden innerhalb der
freisinnigen Partei Meinungsverschiedenheiten, zu welchen andere, aus der Zeit vor Vereinigung der
beiden Parteien, hinzukamen. Der hochbegabte Abgeordnete Theodor Barth vertrat eine Politik
der Annäherung an Caprivi, Eugen Richter mit Recht eine Politik der Reserve. Bei der Beratung
über die Modalitäten, unter denen die zweijährige Dienstzeit bei den Fusstruppen eingeführt werden
sollte, trennte sich der Abgeordnete Barth mit einigen seiner näheren Freunden von der Mehrheit
der Partei. Der von ihm gestellte Abänderungsantrag zum Gesetz, das eine dauernde Heeres-
vermehrung die zweijährige Dienstzeit aber nur widerruflich einführen wollte, wurde von Caprivi
abgelehnt, der, als er in der Folge keine Mehrheit erzielte, den Reichstag am 6. Mai 1892 auflöste.
Die Meinungsverschiedenheiten über die angeführte Streitfrage, die einer Lösyng vor Beginn des
Wahlkampfes erwünscht bedurfte, führten zusammen mit andern Gegensätzen taktischer und
persönlicher Art in der ertegten Fraktionssitzung unmittelbar nach Reichstagsauflösung zu einer
Spaltung der Partei. Es bildeten sich wieder zwei Parteien, die den. Namen Frei-
sinnige VolksparteiundFreisinnige Vereinigung annahmen. Die erste be-
stand im wesentlichen aus den Mitgliedern der alten Fortschrittspartei, unter Richter und
Schmid-Elberfeld, die zweite aus den Mitgliedern der liberalen Vereinigung unter
Schrader und Barth. In dem darauffolgenden Wahlkampf erlitten beide Parteien Ver-
luste. Am 26. Oktober 1894 wurde Caprivi vom Kaiser entlassen.
Die Zeit von 1895 bis 1905 trug unter Hohenlohe und auch anfänglich unter
Bülow innerpolitisch einen unbestimmten Charakter. Nach den heissen Kämpfen, und den
politischen Erschütterungen der vorangegangenen Zeit, unter der noch aktiven Kritik des Alt-
reichskanzlers Bismarcks, unter den Versuchen Kaiser Wilhelm II. eine neue Politik einzuleiten
trat eine gewisse Stimmung des Zuwartens auch im parteipolitischen Leben ein. Die Mitglieder
der freisinnigen Volkspartei und der freisinnigen Vereinigung konnten sich nach der ent-
fremdenden Spaltung nur allmählich wieder annähern, trotzdem die unsichere Lage und die vor-
geschriebene Politik kritischer Reserve sie sachlich wieder Seite an Seite geführt hatte.
In gleicher Richtung und zwischen den beiden andern freisinnigen Parteien politisch und
persönlich vermittelnd war die „deutsche Volkspartei“ tätig. Sie umfasste die
demokratischen Liberalen Süddeutschlands und wurde kurzer Hand als Süddeutsche
Volkspartei bezeichnet. Die Anfänge der deutschen Volkspartei gehen wie die der Fort-
schrittspartei zurück bis in die Bewegung des Jahres 1848. Sie 1eorganisierte sich, nachdem die
Reaktionsperiode überwurden war, zunächst anfangs der 60er Jahre zunächst in Württemberg
unter CarlMayer, Julius Haussmann und Ludwig Pfau. Die Konstituierung
einer auch andere deutsche Gebiete umfassenden Partei zog sich von 1865 bis 1869 hin. Im
September 1868 stellte eine Delcgierten-Versammlung zu Stuttgart das Programm der Deutschen
Volkspartei fest, das sodann am 12. Oktober 1873 eine Revision ur.d Erweiterung erfuhr. Das
Gebiet, aus dem sie sich rekrutierte, war im wesentlichen Süddeutschland. Die Richtung war
demokratisch. In den ersten Perioden des Reichstegs, nur durch sehr wenige Mitglieder,
parunter durch Leopold Sonnemann, den hervorragenden demckratisch und sozial-
politisch gerichteten Gründer der „Frankfurter Zeitung“ vertreten, erhöhte sich deren Zahl
1881 und nach den Septenatswahlen, die sie vorübergehend vollständig verdrängt hatten, noch
mehr im Jahr 1890. Führer war schon seit der 70er Jahre Friedrich Payer. der ve:dienst-
volle demokratische Präsident des württembergischen Landtags. 1895 gab sich die Partei auf
dem Delexiertentag zu München ein neues Programm, dessen Leitsätze in Anlehnung an das
frühere Programm dahin lauteten: