Paul Hirsch, Die Sozialdemokratie. 45
„dass alle auf die ökonomisohe Emanzipation gerichteten Anstrengungen bisher an dem Mangel der
Solidarität (Vereinigung) zwischen den vielfachen Zweigen der Arbeit jeden Landes und dem Nichtvorhandensein
eines brüderlichen Bandes der Einheit zwischen den arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder gescheitert
sind; dass die Emanzipation der Arbeit weder ein lokales, nuch ein nationales, sondern ein sozinles Problem (Auf-
gabe) ist, welches alle Länder umfasst, in denen es moderne Gesellschaft gibt, und dessen Lösung von der prak-
tischen und theoretischen Mitwirkung der vorgeschrittenen Länder abhängt“,
der Anschluss an die Bestrebungen der Internationalen Arbeiter-Association beschlossen.
Gleichzeitig gelangte nach lebhaften Auseinandersetzungen mit 69 gegen 46 Stimmen
folgendes Programm zur Annahme:
Der zu Nürnberg versammelte fünfte deutsche Arbeitervereinstag erklärt in nachstehenden Punkten
seine Übereinstimmung mit dem Programm der Internationalen Arbeiterassoziation:
1. Die Emanzipation (Befreiung der arbeitenden Klassen) muss durch die arbeitenden Klassen selbst er-
kämpft werden. Der Kampf für die Emanzipation der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenpri-
vilegien und Monopole, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassen-
berrschaft, .
2. Die ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von dem Monopolisten (dem ausschliesslichen
Besitzer) der Arbeitswerkzeuge bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der
geistigen Herabwürdigung und der politischen Abhängigkeit.
3. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden
Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur
möglich im demokratischen Staat.
Zum Präsidenten wurde August Bebel gewühlt.
Beide Richtungen der Arbeiterbewegung hatten sich bereits an den Wahlen zum
konstituierenden Reichstag im Februar 1867 und zum norddeutschen Reichstag im August
1867 beteiligt. Bei den Wahlen zum konstituierenden Reichstag entfielen auf den Allge-
ıneinen deutschen Arbeiterverein rund 40000 Stimmen, ohne dass es ihm gelang, ein
Mandat zu erobern, während die sächsische Volkspartei, deren Kern die sächsischen
Arbeitervereine bildeten, und die sich am 19. August 1866 in Chemnitz konstituiert
hatte, mit etwa 18000 Wählerstimmen in Glauchau - Meerane Bebel und in Zwickau—
Crimmitschau Schraps, beide allerdings erst in der Stichwahl, durchbrachte. Bei den
Wahlen zum norddeutschen Reichstag wurden 7 Kandidaten der Arbeiterpartei gewählt,
und zwar für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein von Schweitzer in Elberfeld—
Barmen und Reincke in Lennep— Mettmann, für die sächsischen Arbeitervereine Bebel in
Glauchau —Meerane, Schraps in Zwiekau—Crimmitschau, Wilhelm Liebknecht in Stollberg —
Schneeberg, Dr. Götz in Leipzig-Land und Försterling in Chemnitz. Auf den Streit zwischen
beiden Richtungen einzugehen würde zu weit führen. Man kann die Differenzpunkte in An-
lehnung an Mehring®) wohl am besten so präzisieren, dass, nachdem in der Schlacht bei
Königgrätz die eisernen Würfel zu Gunsten Preussens gefallen waren, der Allgemeine
deutsche Arbeiterverein die nunmehr geschaffene Sachlage annahm, nicht mit irgend welcher
Anerkennung, geschweige denn Begeisterung, sondern als den Abschluss einer historischen
Entwicklung, die sich nicht mehr rückgängig machen lasse, die auch das Proletariat
annehmen müsse, nicht als einen Boden, auf dem es sich einrichten könne, sondern als
einen Platz, von dem aus es nunmehr den Kampf um seine Emanzipation führen müsse,
wohingegen die sächsische Volkspartei die durch den Krieg geschaffenen Zustände unver-
söhnlich zu bekämpfen, die gross-deutsch-demokratische Einheitstendenz ungeschmälert auf-
recht zu erhalten und die Zusammenberufung eines konstituierenden Parlaments zu erstreben
beschloss, das von allen deutschen Staaten mit Einschluss Deutsch-Oesterreichs zu beschicken
sei. In diesem Beschluss lag uach Mehring der Schwerpunkt des Chemnitzer Programms,
das sich in seiner politisch sozialen Forderungen sonst nahe mit dem Programm des Allge-
meinen deutschen Arbeitervereins berührte, wenn es auch nicht so prinzipiell sozialistisch war.
9) Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie.