Paul Hirsch, Die Sozisldemokratte. 47
übergegangen war, stimmten auf der Generalversammlung zu Hannover im Jahre 1874
bereite 19 von 69 Delegierten für einen Antrag, der die Notwendigkeit einer Vereinigung
aller sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands betont, wenn er auch von bestimmten
Vorschlägen absah, solange nicht „der Kongress der Eisenacher konstatiert, dass auch er
eine Einigung aufrichtig anstrebt“. Nachdem dann der Kongress der Eisenacher in Coburg
(18—21. Juli 1874) erklärt hatte, dass er der Einigung der beiden deutschen Arbeiter-
fraktionen geneigt sei, bot im Herbst desselben Jahres Wilhelm Tölcke namens des Allgemeinen
deutschen Arbeitervereins den Eisenachern die Hand zur Versöhnung, und so trat denn
nach vertraulichen Vorbesprechungen und nach Veröffentlichung eines Programm- und
Organisationsentwurfs vom 22. bis 27. Mai 1875 der Vereinigungskongress in Gotha zusammen.
Das hier beschlossene Programm lautet in seinem grundsätzlichen Teile:
1. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtuma und aller Kultur, und da allgemein nutzbringends Arbeit nur
durch die Gesellschaft möglich ist, su gehört der Gesellschaft, d. l. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeits-
produkt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemässen Bedürfnissen.
In der beutigen Gesellschaft sind die Arbeitemittel Monupol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte
Abhängi'gkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen,
Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und
die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung
des Arbeitsvertrages.
Die Befreiurg der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur
eine reaktionäre Masse sind.
2. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen
gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes
durch Abschaffun, des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung
aller sozialen und politischen Ungleichheit.
Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obeleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist
sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewusst und entschlossen, alle Pflichten, welche
derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen,
Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen. die
Erriehtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontr:-lle
des arbeitenden Vulkes. Die Produktivgenussenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfange ins
Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.
Die Organisation der Partei wurde so gestaltet, dass an die Spitze ein fünfköpfiger
Vorstand mit dem Sitz in Hamburg und eine siebengliedrige Kontrollkommission mit dem
Sitz in Leipzig trat. In den Vorstand wurden drei Lassalleaner und zwei Eisenacher ge-
wählt, und zwar Hasenclever als erster, Hartmann als zweiter Vorsitzender, Auer und
Derossi als Schriftführer, Geib als Kassierer. Vorsitzender der Kontrollkommission wurde
Bebel. In Konfliktsfällen zwischen beiden Körperschaften sollte ein Ausschuss
von 18 Mitgliedern aus verschiedenen Orten Deutschlands die Entscheidung treffen. Die
höchste Instanz bildete der Kongress. Als offizielles Parteiorgan bestanden „Volksstaat“
und „Neuer Sozialdemokrat“ vorläufig nebeneinander; beide Blätter wurden auf dem nächsten
Kongress, der vom 19. bis 23. August 1876 gleichfalls in Gotha tagte, zu einem einheit-
lichen Organ „Vorwärts“ verschmolzen. Erscheinungsort des Blattes war Leipzig, zu
Redakteuren wurden Liebknecht und Hasenclever ernannt. Im ganzen verfügte die Partei
damals über 23 Blätter, von denen 2, die Berliner Freie Presse und das Hamburg- Altonaer
Volksblatt, täglich erschienen. Bis zum nächsten Kongress, der im Jahre 1877 wiederum in
Gotha zusammentrat, hatte sich die Zahl der politischen Blätter auf 41 vermehrt, darunter
13 täglich erscheinende. Dazu kam das Unterhaltungsblatt „Neue Welt“, und am 1. Oktober
1877 erschien auch die erste Nummer einer wissenschaftlichen Parteizeitschrift unter dem
Namen „Die Zukunft“.
Auch bei den Reichstagswahlen war die Zahl der für die Sozialdemokratie abgegebenen
Stimmen und die Zahl der sozialdemokratischen Mandate von Jahr zu Jahr gestiegen. Als
die vereinigte Partei zum erstenmal an die Wahlurne trat, am 10. Januar 1877, brachte