Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

48 Paul Hirsch, Die Sozialdemokratie. 
  
sie es auf 493000 Stimmen gegen 352000 im Jabre 1874. Das bedeutet eine Vermehrung 
um 40°/,, während die Bevölkerungsziffer um noch nicht 4% und die Zahl der Wahl- 
berechtigten nur um 4,7°/, gestiegen war. Mehr als der zwanzigste Teil aller Wahl- 
berechtigten hatten ihre Stimmen für die Kandidaten der Sozialdemokratie abgegeben, von 
denen 7 im ersten, und 5 weitere im zweiten Wahlgang gewählt wurden. Bei der voran- 
gegangenen Wahl hatte die Sozialdemokratie es nur auf 9 Mandate gebracht. 
o waren alle Vorbedingungen für eine gedeihliche Weiterentwicklung der Partei 
gegeben, als plötzlich ein Ereignis eintrat, das die Entwicklung zwar nicht aufhalten konnte, 
ihr aber doch zunächst wenigstens schwere Hemmnisse in den Weg legte. Schon vor den 
Walılen des Jahres 1877 hatte die Regierung beim Reichstage anlässlich der Reform des 
Strafgesetzbuches eine Gesetzesbestimmung beantragt, durch welche mit Gefängnis bedroht 
werden sollte, „wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene 
Klassen der Bevölkerung gegeneinander öffentlich aufreizt oder wer in gleicher Weise die 
Institute der Ehe, der Familie und des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift an- 
greift“. Der Reichstug hatte die Bestimmung einmütig abgelehnt. Als nun am 11. Mai 
1878 in Berlin Unter den Linden ein Klempnergeselle Hödel in dem Augenblick, als der 
Kaiser vorüberfuhr, einige Revolverschüsse abgab, die als ein Attentat gegen das Staats- 
oberhaupt ausgelegt wurden, benutzte Bismarck die Gelegenheit, dem Reichstage noch in 
demselben Monat einen „Gesetzentwurf zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen“ 
zu unterbreiten, der neben anderen drakonischen Massnahmen gegen die Sozialdemokratie 
dem Bundesrat die Ermächtigung geben sollte, Druckschriften und Vereine, welche die 
Ziele der Sozialdemokratie verfolgen, zu verbieten, der ferner der Polizei das Recht gab, 
Versammlungen zu verbieten oder aufzulösen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die An- 
nahme rechtfertigen, dass sie Zielen der Sozialdemokratie dienen sollen. Das Gesetz sollte 
sofort in Kraft treten, seine Geltungsdauer war auf drei Jahre berechnet. Ob Hödel wirklich 
ein Attentat gegen Wilhelm I. beabsichtigt hatte, oder ob er nicht vielmehr, wie er be- 
hauptete, sich selbst hat erschiessen wollen, um dadurch die Aufmerksamkeit des Kaisers 
auf das Elend der Massen zu lenken, bleibe dahingestellt. So viel aber ist sicher, dass er 
mit der sozialdemokratischen Partei nicht das allergeringste zu tun hatte, als Anhänger 
Stöckers vielmehr ein fanatischer Gegner der Sozialdemokratie war. Bei der Beratung des 
Gesetzentwurfs im Reichstage liess die sozialdemokratische Fraktion durch den Mund 
Liebknechts folgende Erklärung abgeben: 
„Der Versuch, die Tat eines Wahnwitzigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung geschlossen ist, zur 
Ausführung eines lange vorbereiteten Reaktionsstreichs zu benutzen, um die „moralische Urheberschaft‘‘ des noch 
unerwiesenen Murdattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwälzen. welche den Mord in jeder Form 
verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung ala von dem Willen einzelner Personen ganz un- 
abhängig auffasst, richtet sich selbst so vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen, dass wir, die Ver- 
treter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands uns zu der Erklärung gedrungen fühlen: 
Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Debatte des dem Reichstag heute vorliegenden 
Ausnahmegesetzes teilzunehmen und werden uns durch keinerlei Provokationen, von welcher Seite sie kommen 
mögen, in diesem Entschluss erschüttern lassen. Wolıl aber werden wir uns an der Abstimmung beteiligen, weil 
wir es für unsere Pflicht halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die Volksfreiheit das unsrige 
beizutragen, indem wir unsere Stimmen in die Wagschale weıfen. Falle die Entscheidung des Reichstages aus, 
wie sie wolle, die deutsche Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgung gewöhnt, blickt weiteren Kämpfen mit 
jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die das Bewusstsein einer guten und unbesiegbaren Sache verleiht.“ 
Der Gesetzentwurf fand nicht die Zustimmung des Reichstages, er wurde am 24. Mai 
1878 gegen die Stimmen der Konservativen und der beiden Nationalliberalen Beseler und 
von Treitschke abgelehnt. Wenige Tage darauf, am 2. Juni, erfolgte das Attentat Nobilings 
auf den deutschen Kaiser. Obwohl Nobiling in der Sozialdemokratie vollständig unbekannt 
war und den sogenannten besten Kreisen angehörte, und obwohl man niemals erfahren hat, 
was ihn zu dem Attentat veranlasste, machte Bismarck auch für dies Attentat olıne weiteres 
die Sozialdemokratie verantwortlich. Der Reichstag, der sich seinen Bestrebungen nicht 
willfährig genug gezeigt hatte, wurde unbekümmert darum, dass sich jetzt auch die national-
	        
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