Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

50. 
Paul Hirsch, Die Sozialdemokratie. 
verknüpft, Gefahren, denen nur opfermütige und von der Heiligkeit ihrer Sache durch- 
drungene Männer sich zu unterziehen imstande sind. Mit allen Mitteln wurde der „Sozial- 
demokrat“ in Deutschland verfolgt, mit den schwersten Strafen wurde seine Verbreitung 
geahndet, aber ungeachtet aller Gefahren wurde er Woche für Woche über die Grenze 
geschmuggelt und mit einem wahren Heisshunger von den Parteigenossen verschlungen. 
Welcher Verbreitung sich das Blatt erfreute, erhellt am besten daraus, dass es nicht nur 
seine Herstellungskosten deckte, sondern noch reichliche Mittel zu Agitationszwecken abwarf. 
Auch sonst liess es die Partei an der Herausgabe aufklärender Schriften über den Sozialisınus 
nicht fehlen; besonders hervorzuheben ist die in Zürich erschienene „Sozialdemokratische 
Bibliothek*, eine Sammlung von Abhandlungen, die während des Ausnahmegesctzes und 
nachher ungeheuer viel zur Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Arbeitern bei- 
getragen haben. 
Der erste Kongress der Partei nach Erlass des Sozialistengesetzes tagte vom 20. bis 
23. August 1830 auf Schloss Wyden in der Nähe von Ossingen im Kanton Zürich. Der 
Ort der Tagung dieses sowie aller übrigen Kongresse unter dem Ausnahmegesetz blieb trotz 
der vorherigen Ankündigung, dass ein Kongress abgehalten werde, stets tiefes Geheimnis, 
vor allem erfuhr die Polizei niemals etwas davon. Der wichtigste Beschluss des Wydener 
Kongresses, der von 56 Teilnehmern — in ihrer überwiegenden Mehrzahl aus Deutschland, 
aber auch Vertretern der deutschen Sozialisten in der Schweiz, in Frankreich und Belgien 
sowie von je zwei österreichischen und schweizerischen Parteigenossen — besucht war, war 
die Streichung des Wortes „gesetzlich“ aus dem zweiten Absatz des Gothaer Programms. 
Die Gegner der Sozialdemokratie und eine Reihe von Staatsanwälten zogen aus der Streichung 
dieses Wortes den Schluss, damit sei ausgesprochen, dass die Partei in Zukunft nur noch 
mit ungesetzlichen und revolutionären Mitteln ihre Ziele zu erstreben suchen werde. Auf 
dem Kongress selbst wurde von den Rednern, welche für den Antrag sprachen, ausgeführt, 
dass es nach der Art und \Veise, wie das Sozialistengesetz gehandhabt werde, einfach ein 
Widersinn wäre, das \Vort „gesetzlich“ im Programm stehen zu lassen. Die Partei sei 
tatsächlich ausserhalb des Gesetzes gestellt und für vogelfrei erklärt, und was von der Partei 
ausgehe, werde verfolgt. Unter solchen Umständen sei die Erklärung, nur mit gesetzlichen 
Mitteln wirken zu wollen, entweder eine der Partei unwürdige Heuchelei oder aber, wenn 
man das Wort ernst nehinen wolle, ein Verzicht auf jede selbständige Aktion und sozial- 
demokratische Propaganda. * 
Schon der nächste Kongress (29. März bis 2. April 1883 in Kopenhagen) zeigte, dass 
die Partei die Schlappen, die ihr das Sozialistengesetz beigebracht hatte, überwunden hatte, 
Der dritte und letzte Kongress unter dem Ausnahniegesetz (2. bis 6. Oktober 1887 in 
St. Gallen) beauftragte Auer, Bebel und Liebknecht mit der Durcharbeitung des Partei- 
programms. Der Entwurf sollte in allen seinen Teilen in der sozialistischen Presse zur 
Besprechung kommen, zur Abstimmung sollte der hieraus sich ergebende Eintwurf auf dem 
nächsten Parteitage gelangen. Wie wenig sich die Sozialdemokratie durch die Verfolgungen 
und Drangsalierungen der Behörden entmutigen liess, zeigt die Schlussrede des Vorsitzenden 
Paul Singer, der der festen Zuversicht Ausdruck gab, „dass die Partei in Deutschland trotz 
aller Bedrückungen unentwegt vorwärts marschieren werde und dass keine Macht der Erde 
imstande sei, den befreienden Ideen der Sozialdemokratie sich mit Aussicht auf Erfolg ent- 
gegenzustellen Das war nicht die Sprache von Besiegten, nieht die Sprache von Leuten, 
ie vor dem Feinde kapitulieren, sondern die Sprache von Männern, die gewillt sind, den 
Kampf bis zu Ende zu führen. 
Es liegt kein Grund vor, zu leugnen, dass die Partei im ersten Jahre des Ausnahme- 
gesetzes vor dem Zusammenbruch stand, dass es einer Riesenarbeit und grosser Hingebung 
bedurft hat, um sie wieder aufzurichten. Aber die Mühe, deren sich so mancher brave 
Parteigenosse unterzog, wurde herrlich belobnt, fester und foster schlossen sich die Reihen der 
“) Nach 10 Jahren, Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes,
	        
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