Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

52 ‚Paul Hirsch, Die Sozialdemokratie. 
  
lohe ausführte: „Ob das Ausnahmegesetz gute oder geringe Wirkung gehabt hat, lasse ich 
dahingestellt. Man hat es wieder fallen lassen, und die gegen die Monarchie, die Religion 
und alle Grundlagen unserer Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen 
konnten ungehindert ihren Fortgang nehmen; dem kann der Staat nicht untätig zusehen. 
Wir suchen die Abhilfe nicht in einem Ausnahmegesetz, aber in einer Verschärfung und 
Ergänzung der Bestimmungen des gemeinen Rechts.“ Der Reichstag lehnte die Vorlage ab. 
Der nächste gesetzgeberische Versuch war die sogenannte Zuchthausvorlage, die dem Reichs- 
tage am 1. Juni 1899 unterbreitet wurde, aber gleichfalls nicht die Zustimmung der Mehrheit 
fand. Schon vorher war ein Versuch der pr reussischen Regierung im Jahre 1897, das 
damalige preussische Vereinsgesetz zu verschärfen und es zu einem Kampfgesetz gegen die 
Sozialdemokratie zu gestalten. gescheitert. 
Über die Entwicklung der Sozialdemokratie seit dem Fall des Sozialistengesetzes 
geben Auskunft die Berichte, die der Parteivorstand alljährlich an den Parteitag erstattet. 
Auf dem ersten Parteitag zu Halle 1890 konstituierte sich die Partei als „Sozialdemokratische 
Partei Deutschlands“. Auf dem Erfurter Par teitag 1891 schuf sie sich ihr Programm, das 
bis zum heutigen Tage unverändert geblieben ist, das sogenannte Erfurter Programm, dessen 
prinzipiellen Teil wir im Wortlaut folgen lassen: 
Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Unter- 
gang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. 
Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, 
indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismässig kleinen Zahl von Kapitalisten und Grossgrund- 
besitzern werden. 
Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten 
Kleinbetriebe durch kolossale Grossbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesen- 
haftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von 
den Kapitalisten und G lisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten 
— Kleinbürger, Bauern — - bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des 
Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung. 
Immer grösser wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, 
immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf 
zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das 
gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist. 
r Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapita- 
listischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine 
Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft orheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der 
heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar 
geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung. 
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welchesehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum 
an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropri- 
ieren und die Nichtarbeiter— Kapitalisten, Grossgrundbesitzer—in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. 
Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln — Grund und Boden, Gruben 
und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel — in gesellschaftliches Eigentum, und die Um- 
wandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es 
bewirken, dass der Grossbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die 
bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten 
Wohlfahrt und allseitiger harmonischor Vervollkommnung werde. 
g bedeutet die Bofreiung nicht blosdes Proletariats, sondern des gesamten 
Menschongeschlechts, das unter den heutigen Zuständenleidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, 
weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums anPro- 
duktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der beutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben. 
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer 
Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation 
nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamt- 
heit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein. 
Dieson Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnot- 
wencliges Ziel zu weisen — das ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Partei. 
 
	        
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