Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

54 Paul Hirsch, Die Sozialdemokratie. 
nach demokratisch sein, und zwar radikal-demokratisch. Gleichzeitig muss sie für weit- 
ehende Eingriffe der öffentlichen Gewalten in die freie Gestaltung der wirtschaftlichen 
Verhältnisse zu Gunsten der wirtschaftlich Schwächeren eintreten, wie sie das besonders in 
den Parlamenten, vor allem bei Beratung der Arbeiterschutzgesetze, von jeher getan hat, 
Das politische Ziel ergibt sich aus dem Vorhergehenden von selbst: eine 
radikale Demokratie, also eine Demokratie ohne jede Beschönigung, eine Staatsverfassung 
auf republikanischer Grundlage. Ueber die Einzelheiten einer solchen Verfassung, ob 
Republik nach französischem Muster mit einem Präsidenten an der Spitze, oder nach 
schweizerischem Muster mit einem Bundesrat, oder wie sonst, hat die Partei noch nie 
Gelegenheit gehabt, offiziell ihre Ansichten zu entwickeln. Aus leicht erklärlichen Gründen. 
Die unmittelbaren politischen Kampfziele können nicht nach dem Belieben von Parteien 
gewählt werden, sie resultieren vielmehr aus der gesamten Gestaltung der politischen Ver- 
hältnisse. Nach Lage der Dinge aber ist in Deutschland, speziell in Preussen, eine Partei- 
stellung im politischen Kampf: hie Republikaner — hie Monarchisten! vorläufig ausgeschlossen. 
Hier handelt es sich zunächst lediglich um eine stärkere Demokratisierung unserer gesamten 
staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, um ihre Durchdringung mit demokratischem 
Geiste. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass als weiteres Ziel die völlige demokratische 
Verfassung auf republikanischer Grundlage mit aller Klarheit und Deutlichkeit hingestellt wird. 
Auch auf wirtschaftlichem Gebiete erschöpft sich die unmittelbare Tätigkeit zwar in 
dem Kampf um eine Besserung der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebun 
— nicht nur der Industriearbeiter, sondern aus dem Wesen der Partei folgt der Versue 
der Einbeziehung aller schlechtgestellten Klassen, vor allem auch der Landarbeiter in die 
Reihen der Partei. Dieser unmittelbare Tageskampf kann selbstredend kein endgültiges 
Ziel sein, das eine Partei als ihr Ideal bezeichnet und für das sie Kämpfer aus allen 
Klassen werben kann. Ebensowenig kann sie als Ziel die Errichtung einer neuen Klassen- 
herrschaft, etwa die Herrschaft der Klasse der Industriearbeiter oder der Arbeiter schlecht- 
weg aufstellen. Ziel der Sozialdemokratie ist vielmehr die Schaffung, eines Zustandes, in 
welchem die Klassengegensätze überhaupt verschwunden sind. Die Partei erstrebt daher 
die Ueberwindung der Klassengegensätze durch Aufhebung der Klassen selbst. Mit der 
völligen politischen Gleichberechtigung muss Hand in Hand gehen eine Beseitigung der 
verschicdenen Klassen und damit eine vollständige Beseitigung der wirtschaftlichen Grund- 
lagen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. An die Stelle der Warenproduktion, der 
Produktion der Verbrauchsgüter als Waren für den Markt, soll eine sozialistische Produktion 
treten, in welcher alle Güter als Verbrauchsgüter hergestellt werden und die den Gegensatz 
zwischen den um Lohn arbeitenden Proletariern und den am Verkauf der Waren 
interessierten Unternehmern beseitigt. 
Charakteristisch für die sozialdemokratische Partei ist das Bewusstsein ihrer eigenen 
historischen Bedingtheit, wie überhaupt der historischen Bedingtheit aller politischen 
und wirtschaftlichen Zustände. Die Partei stellt ihre Ziele nicht als willkürliche auf, die 
zu einer belicbigen Zeit ersonnen und verwirklicht werden können, sie ist vielmehr von 
einer Entwicklung des Menschengeschlechts im Sinne einer aufsteigenden Kultur überzeugt 
in dem Sinne, dass nicht nur die Kultur selbst immer mehr verfeinert wird, sondern dass 
vor allem der Genuss der Kulturgüter über immer breitere Massen sich erstreckt. Die 
Träger dieser Aufwärtsentwicklung der Menschheit sind von jeher die Unterdrückten 
gewesen, deren Kampf daher stets auch ein Kampf für die Förderung der allgemeinen 
Kultur war. So ist es auch heute, und deshalb ist gerade die sozialdemokratische Partei 
diejenige, die den Kampf für die allgemeinen Kulturinteressen führt. Aus der jeweils erreichten 
Entwicklungsstufe ergeben sich mit innerer Notwendigkeit die Aufgaben, die erfüllt werden 
müssen, um zu einer höheren Kulturstufe emporzusteigen. Deshalb glaubt die Partei, ihre 
Ziele nicht nach Willkür gesetzt zu haben, sondern sie sucht sie aus dem allgemeinen 
politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsgang zu erschliessen, und in dem Eintreten für 
diese Ziele glaubt sio den notwendigen Entwicklunssgang zu befördern und zu beschleunigen.
	        
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