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darauf hin, daß diese Mobilisierung seiner Streitkräfte gegen Osterreich-Ungarn die
Vermittlerrolle, die er auf Bitten des Zaren übernommen, erschwere, wenn nicht
unmöglich mache. Trotzdem setzten wir in Wien unsere Vermittleraktion fort, und
zwar in Formen, welche bis ans Außerste dessen gehen, was mit unserem Bundes-
verhaltnis verträglich ist. Während dieser Zeit erneuerte Rußland spontan seine
Versicherung, datz es gegen uns keine mintärischen Vorbereitungen treffe. Es
kommt der 31. Juli. In Wien soll die Entscheidung fallen. Wir haben es bereits
mit unseren Vorstellungen erreicht, daß Wien den eine Zeitlang nicht mehr im
Gange befindlichen direkten Verkehr, die Aussprache mit Petersburg, wieder auf-
genommen hat. Aber noch bevor das letzte Wort in Wien fällt, kommt die Nach-
richt, daß Rußland seine gesamte Wehrmacht, also auch gegen uns, mobil gemacht
hat. Die russische Regierung, die auf unsere wiederholten Vorstellungen wußte,
was die Mobilmachung an unserer Grenze bedeutet, notifiziert uns diese Modbil-
machung nicht, gibt uns zu ihr auch keinerlei erklärenden Aufschluß. Erst am
Nachmittage des 31. Juli trifft ein Telegramm des Zaren beim Kaiser ein, indem
er sich dafür verbürgt, daß seine Armee keine provokatorische Haltung gegen uns
einnehme. Aber die Mobilmachung an der russischen Grenze gegen uns war schon
in der Nacht vom 30. zum 31. Juli in vollem Gange. Während wir auf russische
Bitten in Wien vermitteln, erhebt sich die russische Wehrmacht an unserer langen,
fast ganz offenen Grenze, und Frankreich mobilisiert zwar noch nicht, aber trifft
doch, wie es zugibt, militärische Vorbereitungen.
Und wir? Wir hatten absichtlich bis dahin (der Reichskanzler schlägt bei den
folgenden Worten wiederholt auf das Pult und spricht in großer Erregung weiter)
keinen Reservemann einberufen, dem europäischen Frieden zuliebe. Sollten wir
jetzt weiter in Geduld warten, bis etwa die Mächte, zwischen denen wir eingekeilt
sind, den Zeitpunkt zum Losschlagen wählen? Dieser Gefahr Deutschland aus-
zusetzen, ware ein Verbrechen gewesen. Darum forderten wir noch am 31. Juli
von Rußland die Demobilisierung als einzige Maßregel, welche noch den europcischen
Frieden retten konnte. Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg erhält ferner den
Auftrag, der russischen Regierung zu ertlären, daß wir im Falle der Ablehnung
unserer Forderung den Kriegszustand als eingetreten betrachten müßten. Der
Kaiserliche Botschafter hat diesen Auftrag ausgeoführt. Was Rußland auf unsere
Forderung der Demobilisierung geantwortet hat, wissen wir bis heute noch nicht.
Telegraphische Meldungen darüber sind nicht bis an uns gelangt, obwohl der
Telegraph weit unwichtigere Meldungen noch übermittelte. So sah sich, als die
gestellte Frist längst verstrichen war, der Kaiser am 1. August nachmittags 5 Uhr,
genötigt, unsere Wehrmacht mobil zu machen. Zugleich mußten wir uns ver-
sichern, wie sich Frankreich stellen würde. Auf unsere bestimmte Frage, ob es sich
im Falle eines deutsch-russischen Krieges neutral halten würde, hat uns Frankreich
geantwortet, es werde tun, was seine Interessen geböten. Das war ein Aus-
weichen, wenn nicht eine Verncinung unserer Anfrage. Trotzdem gab der Kaiser
den Befehl, daß die französische Grenze unbedingt zu respektieren sei. Dieser
Befehl wurde streng befolgt bis auf eine einzige Ausnahme. Frankreich, das zu
derselben Stunde wie wir mobil machte, erlrte, daß es eine Zone von zehn
Kilometer an der Grenze respektieren würde. Und was geschah in Wirklichkeit?
Bombenwerfende Flieger, Kavalleriepatrouillen, in das reichsländische Gebiet ein-
gebrochene Kompagnien; damit hat Frankreich, obwohl der Kriegszustand noch nicht
erklärt war, unser Staatsgebiet angegrisfeen