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Und in der Tat ist die Mehrheit der Staatsrechtler, ')
sofern sie überhaupt ein Prüfungsrecht des Kaisers vor
Vollzug der Ausfertigung annehmen, derselben Ansicht,
dass nämlich das Geschäftsordnungsmässige nicht mit bei
der Prüfung der Verfassungsmässigkeit der Beschlüsse
seitens des Kaisers zu untersuchen ist. So auch Laband,
wenn man seine im „Staatsrecht‘“ Bd. II. aufgestellte
Behauptung, der Kaiser habe die Verfassungsmässigkeit
der Beschlüsse vor Vollziehnng der Ausfertigung zu prüfen,
in Verbindung bringt mit seinen Ausführungen in der
„Deutschen Juristen-Zeitung“ über den Antrag von
Kardorff.?) Dort tut er nämlich — speziell mit Beziehung
auf den Reichstag — dar, dass die Geschäftsordnung
etwas einzig und allein vom Willen des Reichstages selbst
Abhängiges ist, dass er jederzeit Aenderungen dieser
Geschäftsordnung vorzunehmen berechtigt ist.
In Ansehung des Antrages von Kardorff kommt er
sodann zu dem Schlusse, dass er zweifellos „geschäfts-
ordnungswidrig“, nicht aber „formell verfassungswidrig“
war; die in der Verfassung selbst enthaltenen Vorschriften
über die Führung der Reichstagsgeschäfte seien nach
einem „vollkommen anderen Prinzip“ zu beurteilen, wie
die der Geschäftsordnung. M. a. W.: die Verfassung ist
auch nach Laband für die Gültigkeit der Beschlüsse der
gesetzgebenden Versammlungen etwas wesentlich anderes,
als die Geschäftsordnung insofern, als nur die Verfassungs-
mässigkeit der Beurteilung des Kaisers unterliegt.
Bei dieser Prüfung dürfte sich nun meines Erachtens
gewissermassen als Vorfrage, sowohl für die Beschlüsse
des Bundesrates als auch für die des Reichstages ergeben:
Unterliegt der Inhalt des betreffenden Entwurfs der
Gesetzgebung des Reiches? Denn wenn ein Entwurf
beschlossen sein sollte, dessen Inhalt gar nicht der Gesetz-
gebung des Reiches unterliegt, so müsste der Kaiser die
Ausfertigung des Gesetzes schlechthin verweigern, mögen
auch sonst alle Vorschriften der Reichsverfassung erfüllt
1) U. a. Zorn, Staatsrecht I, S. 415 fl. Mejer, Einleitung
S. 279, N. 16. von Mohl, Reichsstaatsrecht S. 291 ft.
2) Jahrgang 1903, S. 8 £.