Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

816 Reformatio in polus. 
zu machen, daß der Verurtheilte sich beschwert fühlt. — Im öffentlich-mündlichen 
Verfahren kann von einem absoluten Verbote der r. i. p. nicht mehr die Rede sein, 
jedoch wird man ihre Zulässigkeit auf die von der Staatsanwaltschaft ergriffenen 
Rechtsmittel beschränken müssen. Die Rechtsmittel sind eben Rechtsbehelfe der strei- 
tenden Parteien, von denen die eine das öffentliche, die andere nur ihr eigenes 
Interesse vertritt. Wenn nun auch die Prüfung des angegriffenen Urtheils seitens 
des zweiten Richters noch so weit gehen kann, wenn auch das neu eingeleitete Ver- 
fahren sich auch ganz wie ein judicium novum anläßt, so ist es doch immer nur 
durch einen Parteiantrag hervorgerufen und kann ohne besondere gesetzliche Bestimmung 
keinen anderen Erfolg haben als die erwünschte Remedur herbeizuführen oder das 
alte Urtheil bestehen zu lassen. Durch diese Erwägung erledigen sich wol auch die 
Bedenken, welche v. Kries, S. 112 ff., gegen das Verbot der r. i. p. bei der 
Berufung de lege ferenda hegt. 
Die Oesterreichische StrafPk O. (vgl. bezüglich der Nichtigkeitsbeschwerde 
§ 290 A. 2, der Berufung § 295 A. 2 und § 472 A. 2, der Wiederaufnahme des 
Verfahrens § 359 A. 4) und ebenso die Deutsche stehen auf diesem Standpunkt. 
In der letzteren ist auch die r. i. p. verboten, sowol bezüglich der Rechtsmittel 
(Berufung § 372, Revision § 398 A. 2) wie der Wiederaufnahme des Verfahrens 
(E 413), wenn das neue Urtheil herbeigeführt wurde von dem Angeklagten (resp. 
Verurtheilten) oder zu Gunsten desselben von der Staatsanwaltschaft oder dem ge- 
setzlichen Vertreter eines Beschuldigten bzw. dem Ehemanne einer beschuldigten Frau. 
Daß auch die für den Angeklagten auf Grund einer vermutheten Vollmacht von den 
dazu berechtigten Personen (vgl. §§ 324, 339) eingelegten Rechtsmittel dieselbe 
Wirkung haben, versteht sich von selbst. — Bezüglich des Inhalts dieses Verbotes 
ist die Ausdrucksweise des Gesetzes nicht vollkommen übereinstimmend. Während 
§ 372 (Berufung) vorschreibt, daß das Urtheil nicht zum Nachtheile des Angeklagten 
abgeändert werden darf, soll bei der Revision (§ 398 A. 2) und der Wiederauf- 
nahme (§ 413) das neue Urtheil eine härtere Strafe als die in dem ersteren früheren 
erkannte nicht verhängen. Nach der communis opinio (vgl. Löwe, § 638 N. 2) 
soll dieser Unterschied in dem Wortlaute der Gesetzesstellen keine Bedeutung haben. 
Anderer Meinung ist Puchelt (6 583 N. 3) und wol mit Recht. Wenn man auch 
zugeben mag, daß ein Grund für diese Verschiedenheit kaum vorhanden sein dürfte, 
so reicht doch die Erklärung, welche Löwe darin finden will, „daß § 398 schon in dem 
Entwurfe enthalten war, während § 372 erst von der Reichsjustizkommission aufgenommen 
worden ist“, schwerlich aus. Uebrigens geben die Protokolle gar keine Aufklärung 
über die Meinung der Kommission, welche in erster Lesung (vgl. v. Hahn, S. 1025) 
auf den Antrag Thilo's hin den Paragraphen in folgender Fassung annahm: „daß 
kein Urtheil eine härtere Strafe als die in dem ersten erkannte verhängen darf“, 
während in zweiter Lesung ein Antrag Struckmann's (vgl. v. Hahn, S. 1387 u. 
1397) durchging, welcher die Abänderung zum Nachtheil des Angeklagten verbot, 
ohne daß diese Fassung überhaupt diskutirt worden wäre. Daß die Redaktions= 
kommission später die Verschiedenheit übersehen hat, ist zwar denkbar, aber der Richter 
darf ihr nicht folgen, wenigstens dann nicht, wenn mit den verschiedenen Worten sich 
ein verschiedener Sinn verbindet, wie das hier unzweifelhaft der Fall ist. Das Ver- 
bot einer Abänderung zum Nachtheil des Beschuldigten hindert das zweite Gericht 
an einer nachtheiligen rechtlichen Qualifikation der That, während bei dem Verbote 
der härteren Bestrafung auf die zu Grunde gelegte Oualifikation nichts ankommt. 
Es kann also der Berufungsrichter z. B. nicht statt Unterschlagung, welche das erste 
Gericht angenommen hatte, wegen Diebstahls bestrafen, was für den Angeklagten 
nachtheiliger wäre, weil diese Verurtheilung später eventuell die Zulässigkeit der 
Bestrafung wegen Rückfalls begründen könnte (vgl. dagegen Thilo, S. 423 N. 4, 
weil kein gegenwärtiger, sondern erst ein zukünftig möglicher Nachtheil in Frage 
käme). Unrichtig wäre es aber jedenfalls, wenn man daraus die Nothwendigkeit
	        
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