896 Reichskanzler.
Stellvertreter des R. tragen für ihren Geschäftskreis die konstitutionelle Verantwort-
lichkeit nach der RVerf. Art. 17 wie der R. selbst; sie dürfen somit kaiserliche
Anordnungen für den Umkreis der ihnen übertragenen Stellvertretung kontrasigniren
und werden dadurch dem Reichstage zur Rechenschaft verpflichtet. Auf Grund jenes
Gesetzes wurden ein General= und eine Anzahl von Spezialstellvertretern bestellt. Auf
den Vorsitz im Bundesrath bezieht sich die allgemeine Stellvertretung des R. nicht,
sondern nur auf die Leitung der Reichsverwaltung und die Kontrasignatur der kaiser-
lichen Anordnungen. Im Uebrigen steht die Vertheilung der Geschäfte völlig im
Belieben des R. In jedem Fall ist der R. berechtigt, jederzeit „jede Amtshandlung
auch während der Dauer seiner Stellvertretung selbst vorzunehmen“. Damit ist der
Umfang der Stellvertretung völlig vom Belieben des R. abhängig gemacht.
Eine besondere Stellvertretung des R. ist nur statthaft „für diejenigen
einzelnen Amtszweige, welche sich in der eigenen und unmittel-
baren Verwaltung des Reiches befinden“. Wo dem Reich nur Auf-
sichts funktionen zukommen, soll eine Stellvertretung des R. nach Ausweis der
Motive nicht stattfinden; wo die Verwaltung theils vom Reiche theils von den Ein-
zelstaaten geführt wird, soll eine Stellvertretung nur dann zulässig sein, wenn die
Verwaltung „vorwiegend“ vom Reiche gehandhabt wird. Mit der Stellvertretung
des R. dürfen nur beauftragt werden „die Vorstände der dem R. unter-
geordneten obersten Reichsbehörden“; die Stellvertretung kann sich auf
den ganzen Umfang des betreffenden Ressorts oder nur auf einzelne Theile desselben
beziehen. Durch die letztere Bestimmung ist die Möglichkeit noch weiterer Spezialisirung
der verantwortlichen obersten Reichsbehörden vorgesehen. In der Praxis werden auch
provisorische Chefs von obersten Reichsbehörden zu Stellvertretern des R. ernannt.
Der Versuch (des Abgeordneten Professor Hänel), bei Berathung des Stell-
vertretungsgesetzes eine gesetzliche Fixirung derjenigen Ressorts, für welche Stell-
vertreter bestellt werden können, zu erreichen, blieb resultatlos; es werden demgemäß
nach dem Gesetz die Stellvertreter persönlich ernannt. Man vermeinte naiver
Weise, hierdurch die befürchtete Entwickelung dieser Stellvertretungsämter zu Reichs-
ministerien abschneiden zu können (vgl. Hänel, Studien, II. S. 22). Thatsächlich
hat sich jedoch das Verhältniß in rascher Folge dahin festgestellt: I. An der Spitze
der sämmtlichen Ressorts, welche in eigener und unmittelbarer Verwaltung des
Reiches sich befinden, stehen Minister mit dem Titel „Staatssekretär“, nämlich
1) für die auswärtigen Angelegenheiten (Auswärtiges Amt), 2) für die Kriegs-
marine (Admiralität), 3) für die Finanzen (Reichsschatzamt), 4) für das Post= und
Telegraphenwesen (Generalpostamt), 5) für die Justiz (Reichsjustizamt), 6) für die
Verwaltung der Reichseisenbahnen (Reichsamt für die Verwaltung der Reichs-
eisenbahnen), 7) für das Innere (Reichsamt des Inneren). Die Vorstände dieser
sieben Reichsministerien sind sämmtlich durch kaiserliche Spezialordres zu Stell-
vertretern des R. ernannt (das Staatssekretariat des Auswärtigen ist zur Zeit
vakant; die Staatssekretäre für das Eisenbahnwesen und das Innere sind zugleich
Preußische Minister). II. Neben den sieben Spezialstellvertretern des R. besteht
ein Generalstellvertreter (der gleichfalls Preußischer Minister ist). III. Der oberste
Chef aller vorgenannten Ressorts ist der R. selbst. Ein kollegialisch or-
ganisirtes Reichsministerium, dessen einzelne Ressortvorstände
selbständige oberste Chefs ihrer Verwaltungen wären, besteht so-
mit allerdings nicht, wol aber bestehen für sämmtliche Zweige der
Reichsverwaltung verantwortliche Stellvertreter des R.; die
sämmtlichen Staatsfekretäre des Reiches sind aber dem R. unter-
geordnet, der demnach staatsrechtlich auch jetzt noch alle Funk-
tionen der Reichsverwaltung in sich konzentrirt.
Die thatsächliche Entwickelung hat jetzt bereits ziemlich weit über die beim
Stellvertretungsgesetz beabsichtigte Organisation hinausgeführt: ob nach dem Sinne