Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Staatsrath. 759 
lichsten erkennbar wird die Bedeutung dieser Einrichtungen in dem kurbranden- 
burgischen Geheimen S. Es kam darauf an: 
1) die dem neuen Staatswesen nothwendigen Gewalten, insbesondere die 
Militär-, Finanz-, Polizei= und Kirchengewalten, im Widerspruch mit dem her- 
gebrachten Rechtszustand, doch in möglichster Schonung der Rechte und Interessen 
der herrschenden Klassen durchzuführen. Unter dem Titel der „von Gott gesetzten 
Obrigkeit“ schafft sich die Staatsregierung schrittweise und experimental zuerst die 
nothwendigen Finanz= und Militärkräfte, ordnet sich durch das „Oberaussichtsrecht"“ 
die ständischen, geistlichen und städtischen Korporationen als Organe der Staats- 
gewalt unter, und verbindet mit den ausführenden Organen zugleich die Entscheidung 
über die Kollisionen zwischen dem neuen und alten Recht, im Geist einer Ver- 
waltungsjurisdiktion. Der S. bildet dafür eine höchstbegutachtende, de facto 
regelmäßig entscheidende Behörde, in unmittelbarer Korrespondenz mit dem Landesherrn. 
2) Mit dem Fortschritt dieser Regierungsweise bilden sich feste Normativ= 
bestimmungen für die Ausübung der Staatsgewalten: der S. wird durch seine 
Stellung zugleich berathende Behörde für Gesetze und Verordnungen. 
Die Hauptschwierigkeit damaliger Verhältnisse lag in der Ungleichartigkeit der 
zusammengefügten Landgebiete und ihrer Rechte, die zu einem gemischten System 
von Real= und Provinzialverwaltung und zu erheblichen Umwandlungen der Organi- 
sation führte. Das Streben nach Stetigkeit und Gerechtigkeit gab dem höchsten 
Regierungskörper in wesentlichen Punkten die Gestalt der ständigen kollegialischen Ober- 
gerichte. Diese Organisation erstreckt sich auch auf die Mittelinstanz in zahlreichen 
ständigen Kollegien. Nachdem auch die Lokalobrigkeit den ständigen Charakter des Land- 
rathsamtes erhalten hat, ist der Parallelismus zwischen Verwaltung und Justiz vollendet. 
Allein so sehr diese jurisdiktionelle Gestalt der Staatsregierung den Deutschen 
Rechtsanschauungen entsprach, so schwerfällig wurde sie allmählich für die wachsenden 
Bedürfnisse einer-neuen Zeit. Schon am Schluß der Regierung Friedrich's des Großen 
erstarrte der Geheime S. mit seinen unförmlichen Abtheilungen zu einem geistlosen 
Körper, der mit den Ideen und Bedürfnissen der Epoche der Französischen Revolution 
nicht mehr Schritt zu halten vermochte. Die Stein-Hardenberg'sche Reform hat 
diesen monströsen Körper zerschlagen und ein einfaches, durchgreifendes, der neuen 
Reformgesetzgebung entsprechendes Ministerialsystem an seine Stelle gesetzt. Daneben 
sollte ein „S.“ restaurirt werden, trat aber erst später und nur als gesetzberathender 
Körper wieder ins Leben. Trotz einzelner musterhafter Gesetzesarbeiten vermochte 
derselbe keine feste Stellung mehr gegen die Ministergewalten zu gewinnen, wurde 
selbst bei Privatrechtsgesetzen umgangen und von Friedrich Wilhelm IV. als ein 
Hauptsitz der ihm mißliebigen „Büreaukratie“ angesehen. Erst in später Stunde 
wurde eine S#jurisdiktion über die „Kompetenzkonflikte“ hergestellt, welche äußerlich 
dem Französischen Muster folgte, der Sache nach aber durch den definitiven Charakter 
seiner Entscheidungen und durch Anerkennung der Gesetze als absolute Norm, doch 
mehr den Charakter der Deutschen Gerichtsbarkeit annahm. Die übrige Verwaltungs- 
jurisdiktion verblieb den Departementsministern in letzter Instanz. 
An dies System der Staatsverwaltung schloß sich nun seit 1848 eine Verfassung 
nach Belgischem, Französischem und Englischem Muster an, ohne Rücksicht darauf, daß 
diese fremden Verfassungen eine von der Ministerverwaltung unabhängige 
Verwaltungsjurisdiktion voraussetzen. Man glaubte, daß die „Ministerverantwortlich- 
keit" die Stelle der Rechtsprechung über das öffentliche Recht ersetzen könne, hatte 
aber weder den Muth noch den ernsten Willen, eine solche zu realisiren. Die völlige 
Unsicherheit und Schutzlosigkeit der Verfassungs= und Verwaltungsgesetze hat lange 
Zeit die öffentliche Meinung (selbst bei der Krisis vom Jahxe 1866) zu keinem ernsten 
Entschluß einer Beschränkung des departementalen Absolutismus zu bewegen vermocht. 
In heutigen Verhältnissen findet die Herstellung eines gesetzberathenden S. 
anscheinend noch ein Hinderniß darin, daß Kompetenz und Formation dafür schwer
	        
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