188 1870. Verträge.
fassung auf alle mögliche Weise gerecht zu werden: Sie haben ganz sicher
geglaubt, daß dieser selben Tendenz auch in der neuen deutschen Ver-
fassung Rechnung getragen werden würde, und Sie haben Alle gefunden, daß
Sie sich furchtbar bitter getäuscht haben, daß gerade das Gegentheil der Fall
ist, daß nicht die Einheitsbestrebungen gefördert sind, sondern daß es dem
Födcralismus und Partikulariomns sich in dieser neuen Verfassung mehr und
mehr breit zu machen und Geltung zu schaffen gelingen wird. Und ich muß
es gestehen, meine Herren, es hat mir gestern einen hochkomischen Eindruck
gemacht, als ich hörte, daß dieselben Männer, die seit vier Jahren diesen
centralistischen Bestrebungen das Wort geredet und sie auf das Entschiedenste
begünstigt haben, jetzt nicht anstehen, diese neue Verfassung willkommen zu
heißen, sich auf den neuen Boden der Thatsachen zu ftellen. Sie haben
vergessen, daß sie dadurch ihrer vierjährigen Thätigkeit geradezu in das Ge-
sicht geschlagen, sie überhaupt todt geschlagen haben. (Ohl ohl) Nim, meine
Herren, also auch in einheitlicher Beziehung ist für das deutsche Volk durch
die neuc Bundesverfassung kein Vortheil errungen worden, und daß man uns
jetzt das Schauspiel einer Kaiserkrönung in Aussicht stellt, wird auch keines-
wegs dazu beitragen, die Hoffnungen des deutschen Volkcs aufs Neue zu be-
leben. Die eigenthümliche Stimmung, die sich wider mein Erwarten, ja zu
meinem größten Erstaunen gestern bei Ankündigung dieser Mittheilung im
Reichstage bemerkbar gemacht hat, zeigt klar, daß man auch in diesen Kreisen,
wo man an Hoffnungsseligkeit das Möglichste geleistet hat, sich über die
Neugestaltung der Dinge keineswegs täuscht, und gerade der Umstand, daß
sie sich mehr und mehr im Stillen eingestchen müssen, daß es mit diesen
Hoffnungen und Erwartungen in Bezichung auf die neue deutsche Einigung
Nichts ist, giebt uns die erhöhte Hoffmmg, ja die Gewißheit, daß unsere
Partei, gegen die mehr oder minder dieser ganze Krieg geführt ist, (Heiter-
keit) davon in Wahrheit den Nutzen haben wird. Meine Herren, Sie lachen.
Es ist dennoch eine Thatsache: Indem man siegte, hat man geglaubt, uns
zu schlagen und mit uns natürlich auch das Volk; es wird sich das Gegen-
theil herausstellen. Ich betrachte insofern die Ereignisse mit einer gewissen
Genugthuung, weil nämlich eine Frage, die sogenannte Einigungsfrage, von
der Tagesordnung nunmehr verschwunden ist, gerade jene Frage, welche
Jahre lang dazu beigetragen hat, Millionen ehrenwerther und tüchtiger
Männer irre zu führen, welche meinten: erst Einigung, nachher wird sich
die Freiheit finden. Nun, wir haben jetzt die Einigung, und wir werden
sehen, wie es mit der Freiheit beschaffen ist. Was der Norddeutsche Bund
in vier Jahren in freiheitlicher und wirthschaftlicher Entwickelung geschaffen
hat, darüber hinaus wird der Deutsche Bund in den nächsten Jahren und
überhaupt nicht kommen. Die Süddeutschen bekommen ja das Füllhorn
dieser Segnungen mit einem Male, sie bekommen alle Gesetze, die Sie seit
vier Jahren hier gemacht haben, nahezu vollständig mit der neuen Verfassung
eingeführt. Auch sie werden in Kurzem einsehen, wie es mit ihren Hoff-