Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

140 1. Buch. IV. Abschn. Das Recht als Wissenschaft und Technik. 
kennt und sodann den einzelnen Fall zu diesen Rechtssätzen 
in Beziehung setzt. Unter Rechtssätzen sind hier aber nicht 
nur die durch das Gesetz oder Gewohnheitsrecht unmittelbar 
gegebenen Rechtssätze zu verstehen, sondern auch alle Rechts- 
sätze, welche die Wissenschaft kraft ihrer Hülfsmittel aus den 
Rechtsprinzipien ableitet. 
Natürlich setzt diese bewußte Rechtsanwendung die 
Kenntnis der Rechtssätze voraus; diese ist aber noch nicht 
genügend. Wer das Gesetz kennt, kann es darum noch nicht 
anwenden, und es gibt ausgezeichnete Theoretiker, welche 
darum noch keine große Praktiker sind; denn auf der einen 
Seite wirken die Rechtssätze bei einem Rechtsfall niemals 
vereinzelt, sondern in ständiger Gesamtheit: der Jurist hat 
daher rötig, nicht nur den einen, sondern sämtliche Rechts- 
sätze in Betracht zu ziehen, die auf den Rechtsfall passen, 
und sodann die Art und Weise zu bestimmen, wie diese Rechis- 
sätze bei den einzelnen Rechtsfällen wirksam werden; ebenso 
wie der Mechaniker nicht etwa bloß das eine oder andere 
kinematische Gesetz zu erkennen hat, sondern auch wissen 
muß, wie sich bei dem Zusammenwirken der mehreren Gesetze 
die Gesamterscheinung gestaltet. Dazu kommt aber noch 
eine weitere Tätigkeit: dies ist die sog. Subsumtion oder 
Unterlegung. Das Wesentliche ist es nämlich, daß der Jurist 
es versteht, den einzelnen Rechtsfall den richtigen Rechts- 
sätzen zu unterstellen, es zu ermitteln, ob und welcher der 
Rechtssätze im einzelnen Falle Anwendung findet. Das wäre 
sehr einfach, wenn wir uns die Sache so zu denken hätten, 
daß der Rechtssatz etwa von selber eine Reihe, sagen wir 
z. B. 100 Fälle ergäbe und der Jwist unter diesen 100 ver- 
schiedenen Fällen den im einzelnen Fall zutreffenden einfach 
herauszufinden hätte. Das ist aber nicht der Fall. Der Rechts- 
satz wirkt in unzähligen Rechtsfällen verborgen, und es muß aus 
der Verborgenheit heraus erkannt werden, was darin lebt und 
webt. Es ist also ganz ähnlich, wie wenn der Chemiker aus 
einem zusammengesetzten Stoffe die Elemente heraus erkennt: 
er kann sie nicht etwa sofort ersehen, nicht etwa sofort. 
mikroskopisch betrachten, sondern er muß die nötigen Reagen- 
zien anwenden, um zu erfahren, ob der eine oder andere 
Stoff darin enthalten ist. So ist es bei den Juristen, und
	        
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