Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

6 Einleitung. 
war, blieb die Fortbildung der Wissenschaft doch beinahe voll- 
ständig in den Händen der gemeinrechtlichen Jurisprudenz; 
insbesondere lag das französische Recht mit seinem teils hoch- 
modernen, teils wieder kleinlich reglementierenden Zug von der 
deutschen Rechtswissenschaft viel zu sehr ab, als daß hier die 
Versuche der Verschmelzung mit der deutschen Rechtsentwick- 
lung durchgedrungen wären. Sie waren immer nur vereinzelt.!) 
Una schließlich faßte das Reichsgericht das französische Recht 
in einer solch verkehrten Weise auf, daß man nur wünschen 
konnte, es werde bald zu den Toten gelegt; denn an Stelle 
des lebendigen Geistes, der in der französischen Rechtsent- 
wicklung des 19. Jahrhunderts fiutete, setzte man die tote 
Mumie eines Cambaceres und eines Bigot de Pr&amenen. 
VL. Bei dieser Sachlage mußte das Bürgerliche Gesetzbuch 
eine Erlösung werden; es mußte uns Hülfe bieten, wenn es ihm 
gelang, die fruchtbaren Gedanken des deutschen Rechtes, wie sie 
die Geister der Vergangenheit in römischer Gewandung fort- 
gebildet hatten, neben den großen römischen Verkehrs- 
gedanken, die sich ehedem im Schoße der römischen Be- 
völkerung forterhielten, neu zu beleben; wenn es ihm ferner 
gelang, den Zug des modernen Rechts zu erfassen und Gestalten 
zu schaffen, welche fähig waren, die Ideenfülle, die in der 
heutigen Kultur unablässig auf uns eindringt, aufzunehmen. 
Man muß im großen ganzen sagen, daß das Bürgerliche 
Gesetzbuch diese Aufgabe — nicht gerade glänzend, aber in 
gut solider Weise — gelöst hat.?) 
VIII. Allerdings zeigt jedes Gesetzbuch neben dem Geiste 
des Volkes auch einiges von dem besonderen Geiste der 
Verfasser, und auch das Bürgerliche Gesetzbuch ist nicht 
frei davon. Die aus der Person der Redaktoren hervor- 
gehende Eigenheit seiner Fassung ist aber eine scharfe, oft 
  
  
1) Was ich in dieser Beziehung in jungen Jahren gesucht, ist 
namentlich in den Gesammelten Abhandlungen (1883) enthalten. Damit 
machte ich es aber weder den französischrechtlichen, noch den gemein- 
rechtlichen Juristen zu Dank. Die letzteren betrachteten das französische 
Recht als Fuft, die ersteren wollten von einer solchen Vertiefung des 
französischen Rechts nicht viel wissen. 
2) Eine Charakteristik habe ich Enzyklopädie I S. 566f, gegeben; 
über den ersten Entwurf (seltsam an Gestalt!) vgl. ebenda I S. 564f.
	        
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