Full text: Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Erster Band. (1)

90 I.Buch. I. Abschn. Stellung d. Rechtsordn. unter d. Kulturmächten. 
5. Rechtsordnung und Friedensordnung. 
87. 
I. Von der Rechtsordnung verschieden ist die Friedens- 
ordnung. Sie besteht darin, daß die gegenwärtig vorhandene 
Lage der Güterwelt nur durch Tätigkeiten des Friedens, d.h. 
im Einverständnis der Beteiligten oder durch Eingriff staat- 
licher Macht verschoben werden darf. Diese Friedensordnung ist 
ein großes Bedürfnis. Sie ist nicht identisch mit der Rechts- 
ordnung, wie man gemeint hat, sondern sie durchkreuzt sie. 
Während das Recht nach Änderung strebt, Verwirklichung 
der Ansprüche will, so ruft die Friedensordnung ein Halt 
entgegen und erklärt dem Berechtigten, die Verwirklichung sei 
ihm nur gestattet, wenn ihm nicht ein menschlicher Wille 
entgegentritt; sonst nur mit Hülfe des Staates, welcher als 
Schirmhort des Rechtes die Verwirklichung zu verschaffen 
hat, welcher sie zu verschaffen hat im Frieden, weil in 
regelrechten Zeiten sich die einzelnen dem Staate unterwerfen 
und den Staat als den Übermächtigen anerkennen. 
ll. Auf dieser Friedensordnung beruht eine große Reihe 
rechtlicher Erscheinungen. Darauf beruht der Besitz und der 
Schutz des Besitzes: der Besitzer hat kein Recht im Sinne 
der Rechtsordnung, er hat nur ein von der Friedensoränung 
abgeleitetes Recht, dahin gehend, daß der Erscheinungsform, 
in welcher er zu den Gütern der Welt lebt, nicht mit Eigen- 
macht entgegengetreten werden darf.) Darauf beruht ferner 
das Recht der Notwehr und Sachwehr, welche den gegen- 
wärtigen Zustand gegen Änderungen schirmen; darauf beruht 
aber vornehmlich der Grundgedanke der Verwirklichung des 
Rechts im Prozeß durch staatliche Hülfe; denn der ganze 
Prozeß ist eine Einrichtung der Friedensordnung. 
Dies Verhältnis von Rechts- und Friedensordnung ist bis 
jetzt noch lange nicht genügend erkannt worden; aber olıne 
solche Erkenntnis bleibt eine Reihe von Rechtserscheinungen 
dunkel. 
2) Enzyklopädie I 8. 600.
	        
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