622 135. Die feierliche Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
„An das deutsche Volk! Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König
von Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen
Ruf an uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit
mehr denn 60 Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu über-
nehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden
Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht
gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben diesem Rufe der verbün-
deten deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiser-
würde anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der
Krone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen
und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und hoffen zu Gott, daß
es der deutschen Nation gegeben sein werde unter dem Wahrzeichen ihrer alten
Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir
übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht in deutscher
Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu
wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines
Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen
Volke vergönnt sein wird den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe
in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem
Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe
gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle
Gott verleihen allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriege-
rischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf
dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“
Ernst und doch freudestrahlend, die Stimme gehoben von innerer Genug-
tuung, hatte Graf Bismarck das weltgeschichtliche Aktenstück verlesen. War
er es doch, der, als leitender Geist hinter allen notwendig gewordenen Vor-
bereitungen und Vorereignissen stehend, durch jahrelange deutschnationale Politik
das Erscheinen dieses großen Tages ermöglicht hatte und dadurch, daß er als
treuer Diener seinem Herrn nun die von ihm geschmiedete deutsche Kaiserkrone
darbot, zugleich sein eigenes, größtes und schönstes Lebenswerk krönte. Der
Eindruck dieses feierlichen Augenblicks, wo Graf Bismarck die bedeutungsvolle
Proklamation verlas, war für alle Anwesenden unvergeßlich, gewaltig und
ergreifend.
Graf Bismarck hatte geendet. Da ergriff der Großherzog Friedrich von
Baden den richtigen Augenblick das erste Lebehoch auf den neugekürten Deutschen
Kaiser auszubringen. Plötzlich zum Rande der Estrade vortretend, rief er,
die Rechte hoch erhoben, mit lauter, vor Begeisterung bebender Stimme:
„Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, er lebe hoch!
und hoch! und hoch!“ Und während die von ihren Trägern geschwungenen
Standarten und Fahnen zu Häupten der Fürsten wehten und sich senkten,
brach der Hochruf aus der Versammlung mit einer Sturmesgewalt und einem