8 9. Die rechtliche Natur des Reiches. 01
auf gleicher Stufe mit den Landesgesetzen und kann durch ein Reichs-
gesetz, welches nur mit der verfassungsmäßigen Bundesrats-Majori-
tät beschlossen worden ist, in allen Staaten beseitigt werden. Anderer-
seits kann ein Reichsgesetz dadurch nicht weggeschafft werden, daß
sämtliche Staaten seine Aufhebung beschließen, falls der Reichstag
in die Aufhebung nicht einwilligt').
Bundesrat und Reichstag sind daher nicht Apparate, um den
Sonderwillen der Einzelstaaten zu sammeln und das Resultat dieser
zusammengezählten Einzelwillen herzustellen, sondern sie sind Organe
für die Herstellung eines selbständigen, einheitlichen Willens, der in
Kontrast treten kann selbst mit den übereinstim-
menden Willensentschlüssen sämtlicher Einzel-
staaten. Dasist derentscheidende Punkt; anihm wird
es völlig klar, daß der Wille des Reiches nicht die Summe der Willen
der Einzelstaaten, auch nicht der Majorität derselben ist.
Auch das Reichsgericht, Entscheidung in Zivilsachen Bd. 44,
S. 380, sagt: »Das Reichsgericht ist nicht oberster Gerichtshof des
Deutschen Reiches in dem Sinne, daß es von sämtlichen einzelnen
Bundesstaaten als höchstes Instanzgericht bestellt worden ist, somit in
jeder zu seiner Verhandlung und Entscheidung gelangenden Rechts-
sache die Gerichtsbarkeit desjenigen Bundesstaates ausübt, aus dessen
Gebiet die Sache stammt. Vielmehr leitet es seine Gerichtsgewalt von
der Justizhoheit des Deutschen Reiches als eines nach der Reichsver-
fassung den einzelnen Bundesstaaten gegenüber selbständigen
und, soweit die Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung und Reichsver-
waltung reicht, ihnen übergeordneten Staatswesens ab
(vgl. Art. 2 der Reichsverfassung).<
2. Entscheidend für die selbständige Willens- und Rechts-
fähigkeit des Reiches und für seine souveräne Herrschermacht über
die Gliedstaaten ist ferner die Bestimmung im Art. 78 der Reichsver-
fassung, daß dasselbe durch einen Majoritätsbeschluß und in der Form
eines Gesetzes seine eigene Zuständigkeit erweitern kann’).
Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewiesene Kompetenz ist eine
so umfassende, daß es fast keine Seite des staatlichen Lebens gibt, die
nicht von ihr direkt oder indirekt betroffen wird. Für die Annahme
eines bloß vertragsmäßigen Verhältnisses der deutschen Staaten zur
gemeinsamen Ausübung gewisser Hoheitsrechte ist schon diese Kom-
petenz von zu unbestimmter Begrenzung, von zu ungemessener Dehn-
1) Daher steht die bisweilen zum Ausdruck gekommene Ansicht, vgl. v. Jage-
mann Reichsverf. S. 30, daß die deutschen Landesherren durch eine Uebereinkunft
das Reich auflösen und einen andern „Bund“ mit einer andern Verf. an seine Stelle
setzen können, im Widerspruch mit Art. 78 der RV. und der staatlichen Natur des
Reichs. Ein solcher Vorgang würde ein Staatsstreich sein. Vgl. meine Ausführung
ın der D. Juristenzeitung 1904 S. 561 fg. Anschütz S. 513 Anm. 2.
2) Vgl. über diese Befugnis des Reiches, die demselben eine Zeitlang bestritten
worden ist, unten 8 55.