Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 9. Die rechtliche Natur des Reiches. 03 
das Prinzip der Majoritätsbeschlüsse anerkennen, heißt nicht, sich mit 
Gleichberechtigten zur gemeinsamen Durchführung bestimmter Zwecke 
und Willensentschlüsse vergesellschaften, sondern sich dem Willen der 
Gesamtheit als einem höheren Willen unterwerfen. 
Wollte man aber auch darauf allein Gewicht legen, daß die Kom- 
petenz überhaupt begrenzt ist, nicht auf die Art, wie sie begrenzt ist, 
wollte man die Fälle der im Art. 4 aufgeführten Angelegenheiten noch 
als einzelne und bestimmte Hoheitsrechte gelten lassen, so macht doch 
Art. 78 auch diesen Standpunkt unhaltbar. Denn nach Art. 78 ist, 
soweit nicht der zweite Absatz hinsichtlich der Individualrechte einzel- 
ner Staaten eine für die Beurteilung des Ganzen unerhebliche Schranke 
zieht, dem Reich die rechtliche Befugnis gegeben, durch Majoritätsbe- 
schluß seine Kompetenz schrankenlos auszudehnen, soweit nur der 
Bereich seiner physischen Macht und seines vernunftgemäßen Wollens 
reicht. Daß die dazu erforderliche Majorität eine verstärkte ist, wirkt 
politisch als eine starke Sicherheit; rechtlich kommt es nur darauf an, 
daß nicht Einstimmigkeit der Bundesstaaten erfordert ist. Daß der 
einzelne Staat in der Minderheit bleiben kann, daß er verfassungs- 
mäßig verpflichtet ist, die Einwirkung des Reiches auf solche Hoheits- 
rechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches demselben nicht 
zugewiesen worden sind, selbst wenn er dieser Ausdehnung seinen 
Widerspruch entgegensetzt, das macht ihn zum Objekt eines höheren 
Willens. Der Einfluß, den der Einzelstaat auf das Zustandekommen 
und die Durchführung dieses höheren Willens hat, kann politisch nicht 
nur ein Ersatz für die verlorene Unabhängigkeit, sondern ein hoher 
Gewinn sein; für die logisch juristische Betrachtung ist entscheidend, 
daß der Einzelstaat in der Minorität bleiben kann, daß sein Wille 
nicht der höchste, letzte, endgültige ist. 
Nicht nur materiell ist eine Kompetenzerweiterung des Reiches 
von dem Erfordernis der Einstimmigkeit frei, auch formell erfolgt die- 
selbe nicht durch einen Vertrag, sondern durch ein Gesetz, nicht in 
der Gestalt der Betätigung oder Ausübung des Willens der Einzel- 
staaten, sondern in der Gestalt einer sie bindenden Rechtsnorm, der 
Betätigung eines über ihnen stehenden Herrschaftswillens. Es ist eine 
unabweisbare Konsequenz aus Art. 78, daß die gesamte Rechtssphäre 
der Einzelstaaten zur Disposition des verfassungsmäßig erklärten Wil- 
lens des Reiches steht!). Durch diesen Satz aber ist die Souveränität, 
1) Sehr richtig sagt Hänel, Studien I, S. 240, daß das Reich ausschließlich 
souverän ist, „denn mit der souveränen Bestimmung seiner eigenen Kompetenz be- 
stimmt es in endgültiger entscheidender Weise über den Umfang der Kompetenz der 
Einzelstaaten, die um deswillen souverän nicht sein können. Damit ist das Reich 
eine Potenz über den Einzelstaaten auch in der Rechtssphäre, welche nach Maß- 
gabe der bestehenden Bestimmungen der Verfassung ihrer Selbständigkeit und ihrer 
Wirksamkeit nach der Weise von Staaten anheimfällt“. Vgl. auch Hänel, Staats- 
recht 1, S. 796 ff. und Zorn], S. 76 ff.
	        
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