Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

94 8 10. Das Subjekt der Reichsgewalt. 
das ausschließliche Selbstbestimmungsrecht, der Einzelstaaten verneint 
und die Souveränität des Reiches anerkannt. 
3. Im Zusammenhange hiermit steht der im Art. 2 der Reichs- 
verfassung ausgesprochene Grundsatz, daß die Reichsgesetze 
den Landesgesetzen vorgehen. Es ist dies eine logische 
Konsequenz davon, daß das Reich die souveräne, d. i. höchste Gewalt 
besitzt, da das vom Reich erlassene Gesetz im Verhältnis zum Landes- 
gesetz als der Befehl einer höheren Macht sich qualifiziert. Aber die 
verfassungsmäßige Anerkennung dieses Satzes ist andererseits auch ein 
Symptom, aus welchem sich auf die Natur des Reiches und auf das 
durch dieselbe gegebene Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaat ein 
Rückschluß gewinnen läßt. In einem Staatenbund kann es keine 
höhere Autorität geben als die des Landesgesetzes: die sogenannten 
Bundesgesetze sind übereinstimmende, materiell gleiche Landesgesetze ; 
sie gelten in jedem zum Bunde gehörigen Staate kraft partikulärer 
Sanktion und deshalb gehen die Einführungsgesetze der Einzelstaaten 
oder spätere Landesgesetze den von den Bundesorganen vereinbarten 
Gesetzen vor. Dies war beispielsweise der Fall hinsichtlich der Wechsel- 
ordnung und des Handelsgesetzbuchs vor der Erklärung dieser Gesetze 
zu Gesetzen des Norddeutschen Bundes und Deutschen Reiches. Der 
Vorrang der Landesgesetzgebung vor den Bundesbeschlüssen ist ein 
untrügliches Kennzeichen dafür, daß das Bundesverhältnis ein vertrags- 
mäßiges, völkerrechtliches ist. Ebenso ist umgekehrt der unbedingte 
Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen, wie ihn die Reichs- 
verfassung feststellt, die Negation der Souveränität der Einzelstaaten, 
die Anerkennung einer über ihnen stehenden, sie rechtlich verpflichten- 
den Herrschermacht. 
S$ 10. Das Subjekt der Reichsgewalt. 
Von der Auffassung des Staates als einer juristischen Person des 
öffentlichen Rechts aus ergibt sich, daß das Subjekt der Staatsgewalt 
der Staat selbst ist'). Alles, was man für die juristische Kon- 
1) Die Charakterisierung des Staates als Person ist Gegenstand einer großen 
wissenschaftlichen Kontroverse, welche innerhalb der Grenzen, die der Darstellung 
eines konkreten positiven Rechts notwendig gezogen werden müssen, unmöglich mit 
der erforderlichen Ausführlichkeit erörtert werden kann. Einerseits wird von der 
sogenannten empirischen (materialistischen) Schule der ganze Begriff der juristischen 
Person verworfen und dieselbe als eine Fiktion, als ein rechtswissenschaftlicher 
Rechenpfennig, als eine logische Krücke u. dgl. bezeichnet, weil ihr die reale (phy- 
sische) Existenz fehle, die nur den einzelnen Menschen zukomme. Dieser Einwand 
kann gegen alle Rechtsbegriffe ohne Ausnahme erhoben werden. Das Recht ist nur 
eine Welt von Vorstellungen, einen Rechtsbegriff deshalb ablehnen, weil er der fak- 
tischen (physischen) Existenz ermangelt, heißt das Recht überhaupt ablehnen; man 
darf daraus, daß das Recht keine substanzielle Existenz hat, nicht schließen, daß es 
überhaupt nicht wirklich existiere, sondern nur in Fiktionen bestehe. Andererseits 
schreiben Gierke und seine Anhänger, namentlich Preuß, den „Gesamtpersonen“
	        
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