8 10. Das Subjekt der Reichsgewalt. 95
struktion und wissenschaftliche Durchbildung des Staatsrechts durch
die Personifikation des Staates gewinnt, opfert man sofort wieder auf,
wenn man den Monarchen oder das Volk oder wen sonst für das
Subjekt der Staatsgewalt, für den eigentlichen Souverän erklärt. Denn
man entzieht dadurch dem Staat eben das, was ihn im Rechtssinn zur
Person macht, nämlich die Eigenschaft, Subjekt von Rechten zu sein,
man macht ihn zum Objekt eines fremden Rechts oder löst ihn auf
in ein Aggregat von Befugnissen eines Menschen oder einer Vielheit
von Menschen. Man braucht nur an die juristischen Personen des
Privatrechts sich zu erinnern, um sofort zu begreifen, daß, wenn man
nicht die Privatrechtsperson selbst als das Subjekt ihrer Vermögens-
rechte ansieht, sondern etwa ihren Vorstand oder ihre Generalver-
sammlung, oder die Destinatäre, denen das Vermögen zugute kommt,
man die Annahme der juristischen Person wieder aufhebt, eine selb-
ständige, durch logische Abstraktion erkannte Persönlichkeit nicht mehr
übrig bleibt. Ebenso verschwindet die Persönlichkeit des Staates als
das Subjekt von obrigkeitlichen Herrschaftsrechten, wenn man den
Inbegriff aller dieser Rechte, die Staatsgewalt, nicht dem Staate, dem
organischen Gemeinwesen« selbst, sondern dem Fürsten oder dem
Parlament, oder beiden zusammen, oder sonst einem von dem Staate
selbst begrifflich verschiedenen Subjekte beilegt').
Wendet man dieses allgemeine Prinzip auf das Deutsche Reich
an, so ergibt sich, daß das Subjekt der Reichsgewalt nur
(sozialen Verbänden, Genossenschaften, Körperschaften u. s. w.) eine ebenso substan-
zielle Existenz zu, wie den einzelnen Menschen, und sprechen von Organen derselben
im wahren biologischen Sinne. Sie verwerfen daher die auf logischer Abstraktion
beruhende Vorstellung eines durch die Gesamtheit gebildeten Rechtssubjekts, welches
von den einzelnen Individuen begrifflich verschieden ist und ihnen als selbständiger
Träger von Rechten und Pflichten gegenübersteht, als individualistisch, zivilistisch,
romanistisch u. dgl. Aber die Gesamtperson lebt und webt nur im Reiche der Ge-
danken und ist lediglich eine Vorstellung, mag dieselbe auch an natürliche Substrate
anknüpfen; es ist ein vergebliches Bemühen, einen Rechtsbegriff zu einem (im phy-
sischen Sinne) wirklich existierenden Wesen zu machen. Dies gilt auch von der Per-
sönlichkeit des Menschen; sie ist ebenfalls nur eine Rechtsvorstellung; die Natur
schafft Menschen, aber keine Rechtssubjekte; es gibt keine natürlichen Personen, son-
dern nur juristische. Vgl. meine Abhandlung in der Zeitschrift f. das ges. Handelsr.
Bd. 30 (1885), S. 471 und jetzt auch Jellinek, System der subj. öff. Rechte S. 28,
Rehm, Allgem. Staatslehre S. 151 ff. und besonders die vortreffliche Erörterung von
Grasso, Presupposti giuridieci del diritto costituzionale, Genova 1898, S. 55 ff. und
meine Besprechung dieser Schrift im Archiv f. öffentl. R. Bd. 14, S. 569 ff. sowie
Anschütz, Enzykl. S. 453 ff., bes. 457.
1) Für die Begründung der Staatssouveränität in dem entwickelten Sinne sind
zu vgl.Zachariä, Deutsches Staatsrecht I, 818; Schulze, Einleit. in das Deutsche
Staatsrecht 8 49, 535; Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht II, S. 10 fg.; v. Mohl,
Enzyklopädie (2. Aufl.) S. 116 und besonders v. Gerber, Grundzüge 8 7, Notel u.
S. 225 ff. (Beilage ID); Jellinek, Staatenverb. S. 24 fg. Meyer, Staatsrecht 85.
Triepel, Interregnum S. 98. Zorn (2. Aufl.) IL, S.89fg. Rehm a.a. 0. An-
schütz S. 471.